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Interview mit Virginia Adam

Gründungslehrerin an der Freien Waldorfschule

In den Anfangszeiten der Initiative Freie Pädagogik im Herbst 1989 spielte Dein großes Wohnzimmer in der inneren Südvorstadt eine wichtige Rolle. In jeder Woche kamen mehr Interessierte zu Dir in die Wohnung. Wie kam es, dass sich so viele Künstler, Ärzte, Journalisten und wenige Lehrer bei Dir in der Wohnung versammelt haben?

Darauf hatte ich tatsächlich keinen Einfluss. Befreundete oder mir gut bekannte Menschen sagten es einfach Interessierten weiter. Reiner Zufall, dass wenige Pädagogen dabei waren.

Als ich im November auf Empfehlung von Else Förster dazu kam, hatten wir schon die Angst vor dem Sprechen überwunden. Welchen Eindruck hattest Du von dieser bunten Truppe, die sich da bei Dir versammelt hat?

Die größte Schwierigkeit bestand anfangs darin, dass konkrete Vorstellungen bzw. ein genaues Wissen von anderen Schulformen allen Anwesenden fehlten. Einig war man sich in dem Wunsch nach Freien Schulen und nach einer Pädagogik, die das Gegenteil der bisher erlebten war. Eine größere Anzahl der Teilnehmenden, wie auch ich, strebten die Gründung einer Waldorfschule an, weil bei diesen ein wenig Wissen über deren besondere Pädagogik schon vorhanden war. Aber wie eine solche Schule im Detail aufzubauen wäre, entzog sich natürlich unserer Kenntnis.

Wie war der Altersdurchschnitt?

Interessanterweise waren die Altersunterschiede der Anwesenden erheblich. Nicht nur junge Eltern, sondern auch Menschen, die keine oder keine schulpflichtigen Kinder mehr hatten, nahmen intensiv teil am zukünftigen Geschehen.

Gab es Insider oder Wortführer?

Trotz der Formulierungsschwierigkeiten wurde jede geäußerte Meinung oder Vorstellung mit größtem Interesse und vorurteilslos entgegen genommen und der Wunsch und Wille zur Erneuerung sprühte förmlich wie Feuerfunken in dieser Runde.

Da Lehrer in der Zeit so unbeliebt waren wie Polizisten oder SED-Funktionäre, habe ich meinen Beruf dort in der Initiative lange verschwiegen. Ich war ja tatsächlich schon einige Jahre Hausfrau, ein völlig ungewöhnlicher Status in der DDR. Wie war das bei Dir?

Leider kann ich mich nicht erinnern, ob in diesem Kreise mein Lehrerberuf zur Sprache kam. Möglich wär’s schon, sogar ohne viel Bedenken. Aber in diesem Beruf war ich ja mehr als 15 Jahre nicht mehr tätig, denn stattdessen war auch ich mit sieben Kindern als Hausfrau, zudem jahrelang allein erziehend, völlig ausgelastet. Kinderreich zu sein und deswegen Hausfrau war in DDR-Zeiten vor allem auf Ämtern ein großer Makel. Man wurde geringschätzig behandelt und die Unterstellung, man sei nur zu faul zum Arbeiten, konnte ich schon öfter zu hören bekommen.

Das diesbezüglich extremste Beispiel erlebte ich durch die Leiterin des Familienamtes. Da ich nach meiner Scheidung allein erziehend war, hatte dieses Amt gewisse Aufsichtsrechte und konnte allerlei Auflagen vorschreiben, die zu erfüllen waren, damit man das Erziehungsrecht behalten durfte. So erhielt ich also eines Tages durch diese Amtsleiterin die Auflage, entsprechend meiner Musiklehrerausbildung wieder in Schulen zu arbeiten. Um jedoch genügend Zeit für die Unterrichtsvorbereitung zu haben, kämen die fünf minderjährigen Kinder ins Heim- und für so nette Kinder gäbe es auch in der DDR gute Heime. Aus meiner 300qm-Sechszimmer-Wohnung hätte ich dann ein eine Zweiraum-Wohnung zu ziehen. Diese könnte dann auch immer ordentlich aussehen, wenn mich die Kinder wechselweise am Wochenende besuchen kämen. Außerdem würde ich mehr Geld zur Verfügung haben und den Lebensstandard erheblich verbessern können, was ja wiederum den Kindern zugute käme, wenn auch nur am Wochenende – aber immerhin wäre das wohl auch für mich ein besseres Leben. Das war also die Auflage, die ich befolgen sollte. Und zu diesem Zweck schleppte sie mich zum Personalchef der Abteilung Volksbildung, mit dem sie hinter meinem Rücken bereits einen Termin vereinbart hatte. Er sollte die passenden Musiklehrerstellen heraussuchen. Der Kaderleiter schloss erst mal alle Türen, nachdem sie sich verabschiedet hatte und hörte sich an, unter welchen Umständen meine Schultätigkeit stattfinden sollte. Eine Kündigung meinerseits kam nicht infrage, denn die Anstellung bei der Volksbildung war normalerweise auf Lebenszeit verpflichtend.

Nach meinem Bericht war er vor Empörung über eine solche Auflage regelrecht außer sich. Auf gar keinen Fall werde er mir eine Schule vermitteln und gegenüber der oben genannten Amtsleiterin behaupten, es gäbe keinen Arbeitsplatz für mich in irgendeiner Schule.

Ein wahrer Mensch, dem ich noch heute zutiefst dankbar bin, denn um die Brisanz der Situation zu verstehen, muss man wissen, dass in DDR-Zeiten eine gesetzliche Arbeitspflicht vorgeschrieben war. Befolgte man diese nicht, war sogar Gefängnisstrafe möglich. Hätte es also einen Arbeitsplatz für mich gegeben, dann wäre diese Auflage mit großer Wahrscheinlichkeit in die Tat umgesetzt worden. Das hat dieser mutige Kaderleiter verhindert.

Jede Woche montags zogen wir um den Ring mit immer neuen Plakaten oder Bettlaken. Warst Du da auch einmal mit dabei?

An den Montagsdemonstrationen konnte ich gar nicht teilnehmen, weil ich mich abends einerseits um die Kindern kümmern und andererseits mein großes Wohnzimmer für ca. 40 Personen umräumen und mit Stühlen versehen musste. Denn eben nach diesen Montagsdemos versammelte man sich bei mir.

Wir haben beide an der Leipziger Uni Schulmusik studiert. Du hattest als Hauptfach Deutsch, ich hatte Französisch. Warum wolltest Du Musiklehrerin werden?

Mein Hauptfach war tatsächlich Musik, wobei Deutsch genauso intensiv ins Gewicht fiel. Für diese Kombination hatte ich die besten Voraussetzungen, um noch schnell einen Studienplatz zu bekommen. Meine Bewerbung für ein Studium der Arbeitspsychologie war abgelehnt und mir geraten worden, über ein Pädagogik-Studium in die Psychologie zu wechseln. Tat ich dann aber doch nicht, nachdem ich die einseitig marxistisch-leninistischen Psychologie-Vorlesungen gehört hatte.

Welche Erfahrungen hattest Du selbst in der Schule mit diesem Beruf machen können?

Das gäbe ein langes Kapitel über einen kurzen Zeitraum meiner Unterrichtstätigkeit in nur einer Schule. Mit allerhand Idealen kam ich von der Uni in eine POS in der Stadt Halle/Saale und blieb dort etwa ein halbes Jahr. Dann zog ich nach Leipzig, die Kinder wurden geboren und der Schuldienst nicht mehr möglich.

Aber zu meinen Erfahrungen: Das Verhältnis zu den Kindern war meist unkompliziert, das zu den Eltern sehr interessant, denn sie schütteten ihr Herz aus über allerhand Misslichkeiten. Erschreckend empfand ich die Meinung mancher Kolleginnen über die Schülerschaft. Diese seien doch „der letzte Dreck.“ Und der Direktor handelte nach diesem Ausspruch, denn er verprügelte des öfteren Schüler, bis sie am Boden lagen. Betrat er während des Unterrichts einen Klassenraum, sprangen alle sofort auf, stellten sich hinter ihren Stuhl und wagten nicht mehr zu atmen. Innerhalb einer 6. Klasse spielte ich „Wellingtons Sieg“ von Ludwig van Beethoven per Schallplatte, außerhalb des Lehrplans vor. Die Kinder waren so begeistert, dass sie um Wiederholung baten. Während die Musik bereits lief, wurde die Tür heftig aufgerissen und der Direktor stürmte ins Klassenzimmer. Alle verhielten sich wie oben beschrieben. Dann begann er, mich und meinen schlechten Unterricht zu beschimpfen und die Kinder aufzufordern, laut zu äußern, dass auch sie meinen Unterricht schlecht und die Lehrerin untauglich fänden. Die Klasse blieb allerdings stumm und er verließ wütend den Raum.

Ein anderes Erlebnis war ein Elternabend, in dem ich über Mobbing gegenüber einer Schülerin zu den anwesenden Eltern sprach. Mit den Schüler*innen hatte ich das bereits getan. Der stellvertretende Direktor, gleichzeitig Parteisekretär, saß ebenfalls dabei und hatte dem Direktor vom Inhalt dieses Elternabends Bericht erstattet. Als ich am nächsten Tag zum Direktor zitiert wurde, gab es eine diffamierende Strafpredigt und das strikte Verbot, jemals wieder Probleme innerhalb einer Klasse mit den Eltern zu besprechen. Die Mutter des gemobbten Kindes allerdings bedankte sich nach diesem Elternabend und sagte mir, dass seit dem ersten Schuljahr ihre Tochter das aushalten musste und kein Lehrer bisher ein Wort darüber verloren habe – obwohl es allen bekannt war. Dem Direktor konnte niemand etwas anhaben, denn er war nicht nur in der Partei und vermutlich bei der Stasi, sondern galt auch als „Verfolgter des Naziregimes“.

Zu einem völlig anderen Erlebnis kam es während einer Risikoschwangerschaft auf einem so genannten Schonplatz im Hort einer Leipziger Schule, an der ich einige Wochen arbeitete. Eines Tages war im Vorraum des Lehrerzimmers eine Art Miniatur-Sandkasten aufgebaut, in dem sich verschiedentliches Kriegsspielzeug, also Soldaten mit Maschinengewehren in unterschiedlichen Positionen, Armeefahrzeuge, Panzer und ähnliches befanden. Ich bekam den Auftrag, ein Schriftstück, in dem die neuen Richtlinien zur Wehrerziehung und Kampfbegeisterung mittels dieses Kriegsspielzeugs, das bis dahin verboten war, abzutippen und zu vervielfältigen. Nur wenige Kolleginnen waren im Raum anwesend, die hörten, dass ich eine Weigerung aussprach, dieses Schriftstück abzutippen trotz Androhung eines Direktorenverweises. Dieser Direktor war allerdings ein vernünftiger Mensch, der die ganze Sache mit Stillschweigen überging.

Mehr als zehn Jahre später, als ich in der neu gegründeten Waldorfschule meine Tätigkeit begann, sprach mich eine Kollegin mit der Frage an, ob ich nicht diejenige sei, die damals an der Schule XY, an der sie selbst jedoch nie gearbeitet, jene Weigerung ausgesprochen hätte. Diese „Tat“ wurde offenbar als so unerhört bewertet, dass sie mit meinem Namen weiter verbreitet worden war.

Seit wann hattest Du von einer anderen Pädagogik geträumt?

Bereits in den oberen Klassen der EOS empfand ich wie viele, viele andere die Indoktrinierung staatlich verordneter Denkmuster als unerträglich. Denn in allen dafür geeigneten Fächern standen die marxistisch-leninistischen Denkinhalte im Vordergrund, weshalb ich schon gar nicht Lehrerin werden wollte.

War für Dich das Ziel, an der Gründung einer Waldorfschule mitzuarbeiten, von Anfang an klar?

Ja, und ich hatte das große Glück, dafür die Anfangsinitiative im Oktober 89 ergreifen zu können, meine Wohnung als Treffpunkt anzubieten und für alle überhaupt an pädagogische Erneuerung Interessierte zur Verfügung zu stellen. Daraus entwickelte sich dann sehr schnell die IFP - also die Initiative Freie Pädagogik und anschließend auf verschiedensten Wegen die unterschiedlichen Schulen in freier Trägerschaft, die bereits im September 1990 mit der Arbeit beginnen konnten.

Wie hast Du überhaupt von Waldorfpädagogik erfahren?

Zwar gab es Waldorfschulen in den alten Bundesländern, aber vor der „Wende“ für uns natürlich keinerlei Zugang zu diesen. Was wir hingegen hatten, war ein in hohem Grade spirituell lebendiges Zentrum innerhalb der Christengemeinschaft, wo über Erneuerungsimpulse auch auf dem Gebiet der Kindererziehung in zahlreichen Vorträgen gesprochen wurde. Sie wurden auch in praxi im Religionsunterricht angewendet. Dem unermüdlichen Einsatz der Gemeindepfarrer, allen voran der Initiativen von Gerhart J. Palmer gelang es, einen „Freundeskreis“ von über 2000 Menschen zu interessieren.

Wann und wo hast Du die erste Waldorfschule gesehen?

Möglicherweise war es März 1990, als ich mit meinen fünf Kindern die Hannover-Bothfeld-Schule besuchen durfte. Wir waren schlicht überwältigt. Die farbenfrohen, künstlerisch gestalteten Klassenzimmer und sonstigen Räumlichkeiten, das Engagement der Eltern in der Schulküche mit ausschließlich biologisch-dynamischem Schulessen, die gelassen-freundliche Unterrichtsatmosphäre und das trotzdem anspruchsvolle Niveau brachten uns zum Staunen. In einer 7. Klasse hospitierte ich im Musikunterricht und erlebte, wie der Musiklehrer Notenblätter mit Liedern aus Franz Schuberts „Winterreise“ austeilte. Er forderte die Klasse auf, eines der ihnen unbekannten Lieder sofort vom Blatt zu absingen, was ohne Schwierigkeiten allen gelang. Besonderheiten der Komposition wurden dann noch gewissermaßen fachmännisch besprochen und die meisten beteiligten sich lebhaft, ja mit Freuden daran.

Was hat Dich an der Waldorfpädagogik überzeugt?

Da die geisteswissenschaftlichen Grundlagen ganz gut nachzulesen und nicht nur graue Theorien sind, stelle ich diese hier nicht dar, obwohl gerade sie mich begeistert haben. Aber sehen wir auf die Praxis als Wirkung der theoretischen Anregungen. Da ist es eben nicht wurscht, wie die äußere Umgebung, in der sich die Lernenden aufhalten, beschaffen ist. Bis in die Toilettenumgebung spielt die selbstverständliche Sauberkeit und künstlerisch-ästhetische Gestaltung, in den Klassenräumen sogar entsprechend der Jahreszeiten, eine bedeutende Rolle. Das wirkt so auf die Befindlichkeiten der Schüler*innen, dass z.B. beschmierte Wände oder zerkratzte – weil aus Holz- Schultische kaum zu finden sind. Außerdem bekommen die Hände altersentsprechend jeden Tag viel zu tun: z.B. durch Stricken, Häkeln, Schreiben, Malen, Zeichnen, Tiere und Puppen, in der Oberstufe Hosen oder Patchworkdecken Nähen, Kupfertreiben, Papier Herstellen, Töpfern, Schmieden und Schustern (wenn entsprechende Lehrer vorhanden sind), Steinplastiken Herstellen und im Orchester Spielen. Wer mangels passenden Instruments dies nicht kann, singt im Chor. In den unteren Klassen gibt es mehrere Wochen praktischen Hausbau, Ackerbau, Handwerke kennen lernen. Die Oberstufe enthält Praktika im Feldmessen, im Sozialbereich und in der Landwirtschaft. Als Einzigartigkeit in allen Schuljahren: Eurythmie. Die anderen Fächer, die auch die staatlichen Schulen unterrichten, werden mehrheitlich in Epochen – meist über drei oder vier Wochen – täglich im Hauptunterricht von knapp zwei Stunden behandelt. Außerdem zwei Fremdsprachen ab erstem Schuljahr, Theaterspiel in Klasse 8 und 12, große Aufführungen in künstlerischer Eurythmie, Jahresarbeit als selbstständiges Projekt in Klasse 8 und 12, Monatsfeiern mit künstlerischen Darbietungen aller Klassen usw.

Zensuren und Sitzenbleiben gibt es bis kurz vor den staatlichen Prüfungen nicht. Beides ist nicht nötig. Wenn der Lerninhalt interessant und begeisternd ist, strengen sich die Lernenden freiwillig an und Aufsätze oder ähnliche schriftliche Hausaufgaben werden länger als verlangt. Freude am Lernen, echtes Interesse auch für das Weltgeschehen und an menschlichen Begegnungen könnten neben vielen Kenntnissen und vielseitigem Können am Ende der Schulzeit zu verlässlichen Lebensbegleitern geworden sein.

Wie die Lehrenden das zuwege bringen, ist in Anlehnung an den Waldorf-Lehrplan in ihre fantasievolle und begeisternde Unterrichtsmethode gelegt. Künstler sein statt „Pauker“ oder „Schulmeister“ ist der wahre Beruf.

Ein selbst erlebtes Beispiel für die Wirkung der Waldorfpädagogik auf die Schüler*innen soll doch noch am Ende stehen. Im 10. oder 11. Schuljahr bot ich meiner Klasse an, an einem sechswöchigen Kochkurs in meiner Küche  - Schulküche war verboten – teilzunehmen. Als anleitende „Köchin“ konnte ich eine Physikerin, Mutter zweier Kinder, die nicht an der Waldorfschule waren, gewinnen. Alle jungen Leute beteiligten sich natürlich an den notwendigen Schnippel- und anderen Arbeiten. Dabei herrschte ein so freundlicher, höflicher und doch freier Umgangston, ein echtes Miteinander im Zuhörenkönnen und Aufeinandereingehen, dass unsere „Köchin“, die von diesem Verhalten tief beeindruckt war, ihre beiden Kinder in der Waldorfschule anmeldete.

Gab es auch etwas, das Dich irritiert oder abgestoßen hat?

Nein, grundsätzlich nichts. Aber die enorme Verantwortung, die ich empfand, führte natürlich zu ständigem Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten, den einzelnen jungen Menschen das geben zu können, was sie zu ihrer Entwicklung brauchen. Zwar ist das nicht irritierend oder abstoßend, aber eben auch kein Zuckerschlecken, was wiederum wohl jeder kennt, der sich ernsthaft „auf die Finger schaut“.

Ein wenig irritierend war – allerdings in erfreulicher Richtung – der in die Schule integrierte Religionsunterricht mit kultischen Handlungen für die unterschiedlichen Altersstufen. Letztere werden allerdings nicht in jeder Waldorfschule angeboten, weil dafür entsprechende Voraussetzungen gegeben sein müssen. Für mich als „DDR-Gewächs“ spielte die religiöse Seite nur außerhalb der Schule eine immerhin tragende Rolle. Religion im konfessionsgebundenen Sinne ist in der Waldorfpädagogik auch nicht gemeint. Vielmehr stattdessen seelische Qualitäten wie Hingabefähigkeit und Liebe, eine Art Aufmerksamkeit in Richtung Andacht, Staunen, Bewundern, Verehrung gegenüber der höheren, weil geistigen Ordnung und nicht weniger gegenüber Pflanzen-, Tier und Menschenwelt. Also ein religiöses Verhältnis gegenüber allem was da kreucht und fleucht und menschelt. Und dieses eben in jedem Unterricht und bei jedweder Betätigung, auch im naturwissenschaftlichen Bereich. Das mag manchem etwas altmodisch klingen, aber bei näherem Hinsehen kommt man vielleicht dadurch mit etwas weniger Katastrophen aus.

Konntest Du als Gründungslehrerin ohne die Ausbildung zur Waldorflehrerin Deine Träume verwirklichen oder gab es da extreme Erwartungen, insbesondere von den Eltern oder aber auch von der Beratungs-(West-)Lehrerin?

Meine Träume in Bezug auf das Verhältnis zu den Kindern bzw. Schüler*innen voll und ganz: mit Wohlwollen und Förderung ohne Notenbewertung, die meist falschen Ehrgeiz anstachelt, auf jeden eingehen, Kritik nur im Notfall. Geeigneter fand ich das Aufzeigen von besseren, bzw. anderen Möglichkeiten, die zielführend sind.

Didaktik und Methodik musste ich natürlich nebenbei erlernen unter Mithilfe eines Beratungslehrers, dessen Geduld ich sicher strapaziert habe. Nicht selten fühlte ich mich wie die Kuh vorm neuen Tor.

An extreme Erwartungen kann ich mich nicht erinnern, aber an frühzeitige Sorgen, ob die Sprösslinge im 6. Schuljahr denn auch später mal das Abitur schaffen könnten.

Na ja, verständlich war’s vielleicht, aber vollkommen unnötig, denn das Abitur wurde sogar mit überdurchschnittlich gutem Ergebnis bestanden.

Der Anfang in einer abgewrackten Kinderkombination in Grünau war sicher nicht das erträumte Ziel. Wie hast Du diese Anfangszeit erlebt?

Du hast Recht, das erträumte Ziel wäre ein echtes Schulgebäude gewesen. Drei Wochen vor Unterrichtsbeginn durften wir mit dem Renovieren, Umbauen – vor allem Toiletten – Malern von Korridoren, Treppenhaus, Keller, Klassenräumen usw. und deren Einrichtung wie Tafeln, Holztische und -stühle, Beschaffen von verschiedenen Unterrichtsmaterialien, z.B. für Handarbeit und anderes beginnen. Unserer damaligen Beratungslehrerin, Frau V. Jakobi waren wir als Kollegium zu großem Dank verpflichtet, denn durch ihren vehementen Einsatz auf Behörden gelang es überhaupt, in kurzer Zeit ein Gebäude zu finden und die Räumlichkeiten in Klassenzimmer zu verwandeln. Die Schulmöbel waren zum großen Teil dankenswerter Weise eine Spende ihrer Marburger Waldorfschule. Das gesamte Kollegium, viele Eltern und Nichteltern schufteten bis zum Umfallen, damit alles Nötige rechtzeitig an seinem Platze war, oft bis in die Nacht hinein. Trotzdem herrschte eine überaus freudige Stimmung aus Begeisterung, überhaupt eine Waldorfschule ins Leben rufen zu können.

Welche Erinnerungen hast Du an die Kinder und die Eltern der vierten Klasse, die Du mit der Schuleröffnung übernommen hast?

Erwartungsvoll die Eltern, erwartungsfroh die Kinder. Erstere immer bereit zu helfen, wenn nötig, letztere schnell eine ganz normale, gut gelaunte, sehr regsame Rasselbande. Manche Kinder waren zuvor versetzungsgefährdet, entwickelten aber so viel Interesses und Lernwilligkeit, dass etliche von ihnen auch das Abitur und ein anschließendes Studium mit Erfolg schafften.

Du musstest Dich als Klassenlehrerin in viele Fächer außer Handwerk, Handarbeit, Fremdsprachen, Gartenbau und Eurythmie einarbeiten. Ist Dir das schwer gefallen?

Sich in die verschiedensten Sachgebiete regelrecht einzuleben war schon vor allem eine Frage der meist mangelnden Zeit, der Kraft und des Gedächtnisses. Der Unterrichtsablauf in Bezug auf Inhalt, Thema und Methode war stets im Kopf, nicht in irgendwelchen Aufzeichnungen. Sich alles zu merken und jede Unterrichtsstunde neu vorzubereiten bedeutete manchmal Kampf bis in die späten Nachtstunden, die mit zunehmendem Fachinhalt sich immer öfter in die Morgenstunden ausweiteten.

Konnten wenigstens Deine eigenen Kinder noch von dieser Schulgründung profitieren?

Zwei meiner Kinder hatten noch das Glück, in die 3. und 4. Klasse zu kommen.

Was sind Deiner Meinung nach die wichtigsten pädagogischen Besonderheiten, auf die eine Waldorfschule niemals verzichten sollte?

Die unerlässliche pädagogische Zusammenarbeit innerhalb des Kollegiums, damit z.B. die Unterrichtsinhalte einer Klassenstufe sich gegenseitig ergänzen können oder bereits zur Vorbereitung für höhere Schuljahre dienen und noch wesentlicher, damit jedes einzelne Kind in seinen Fähigkeiten und Veranlagungen erkannt und bestens gefördert werden kann. Dazu die freie Wahl der Unterrichtsmethode, die Gleichwertigkeit aller Fächer und deren Vielfalt, der Verzicht auf Zensuren und ähnliche Druckmittel.

Konntest Du irgendetwas von Deinem Universitätsstudium in Deiner Schulpraxis verwenden?

Nein – außer dem Diplomzeugnis, das mich berechtigte, auch in der Oberstufe zu unterrichten.

Wie hast Du die Fremdenprüfungen, insbesondere die Abiturprüfungen vor fremden Lehrern erlebt, die Deine Schüler und Schülerinnen absolvieren mussten?

Im Grunde widerspricht diese Art der Behandlung dem Gesetz der Gleichberechtigung. Bereits die eigentliche Benennung als „Nicht-Schüler-Prüfung“ oder als „Schulfremdenprüfung“ widerspricht der Tatsache, dass die Prüflinge 13 Jahre in einer öffentlichen, staatlich genehmigten Schule unterrichtet wurden. Regelrecht skandalös und schikanierend empfinde ich, dass zum Abitur acht Fächer obligatorisch in kurzem Zeitraum geprüft werden und die Benotung dieser Prüfungsergebnisse ohne Berücksichtigung der vorhandenen Vornoten in den obersten Klassen, einzig und allein gilt. Nachprüfungen gibt es nicht.

Probleme mit den fremden Lehrern hatten die Schüler*innen nicht. Diese Lehrer betonten im Nachhinein, wie selten sie zuvor so sprachgewandte, vielseitig gebildete und kompetente Prüflinge erlebt hätten.

Warum findest Du die Abweichungen des Lehrplans an der Waldorfschule vom sächsischen Lehrplan weiterhin gerechtfertigt?

Guten Gewissens kann ich nicht behaupten, den sächsischen Lehrplan zu kennen. Zwanzig Jahre bin ich inzwischen aus dem Schuldienst heraus und kann deshalb nur Vermutungen äußern. Und die würden in erster Linie die Vielseitigkeit und die Vielzahl der in den Waldorfschulen angebotenen künstlerischen und handwerklichen Fächer und die zahlreichen Praktika in verschiedenen Klassenstufen betreffen. Die Möglichkeiten einer wirklich allseitigen Bildung sind eben bedeutend größer.

Die staatliche Anerkennung neben der Genehmigung als Ersatzschule würde die Schule in enges Korsett zwingen. Hast Du Eltern erlebt, die wegen der Fremdenprüfungen und der erschwerten Übergänge an andere Schulen ihre Kinder nicht an die Waldorfschule schicken wollten?

Du sprichst ein Thema an, das mich noch immer auf die Palme bringt. Nach 30 Jahren Waldorfschule in unseren Breiten gibt es von Anfang an das Korsett, also erhebliche Einschränkungen durch die staatliche Genehmigung. Gesetzlich verankert in Artikel 5 des Grundgesetzes ist die Freiheit in Kunst, Wissenschaft und Lehre garantiert. Es ist nicht zu begründen, warum man bei Schulen in freier Trägerschaft eine Ausnahme macht, speziell eben bei den Waldorfschulen. Das wiederum hat z.B. eine wesentlich geringere Finanzierung zur Folge, die ja nach Schüler- und nicht nach Fächer- oder Lehrerzahl irreführend auch noch „Zuschuss“ genannt wird, weshalb alle Waldorflehrer einen erheblichen Gehaltsverzicht leisten müssen bei bedeutend mehr Arbeitsaufwand.

Aber auch auf den Unterrichtsinhalt wirken sich die Einschränkungen aus, denn Prüfungen und Abitur müssen sich nach den staatlichen Vorgaben richten, die wie schon erwähnt, auch noch erheblich mehr Umfang haben. Und mancher Inhalt des Waldorf-Lehrplans bleibt dadurch auf der Strecke.

Du hattest Dich damals für eine hundertprozentige Finanzierung eingesetzt, was auch im Bildungsartikel der sächsischen Verfassung verankert wurde. Leider, leider, wird es noch immer nicht erfüllt.

Zu Deiner eigentlichen Frage: Die Fremdenprüfungen waren kein Grund – aber öfter die räumliche Entfernung der Schule und das Schulgeld, das wegen der ungerechten Finanzierung von den Eltern bezahlt werden muss. Und sollten finanzkräftige Eltern bereit sein, mehr als verlangt zu zahlen, wird dies staatlicherseits vom so genannten „Zuschuss“ wieder abgezogen.

Da muss ich Dich enttäuschen. Die Regelfinanzierung, wie sie für alle vergleichbaren Schularten im Freistaat Sachsen gilt, hätte nach der Verfassung auch zu 100 Prozent der Kosten pro Schüler auf alle Schulen in freier Trägerschaft übertragen werden können, wenn diese Schulen kein Schulgeld erheben. Allerdings würden alle reformpädagogischen Sonderwünsche und Unterrichtsfächer damit nicht abgedeckt. Aber es wäre als Summe schon wesentlich mehr als die im sächsischen Schulgesetz verankerten 90 Prozent der Personalkosten. Aber ich habe noch eine Frage nach der kollegialen Leitung. Hättest Du Dir manchmal einen echten Schulleiter oder eine Schulleiterin gewünscht?

Der kollegialen Leitung in technisch-organisatorischer und vor allem pädagogischer Hinsicht wird in der Lehrerkonferenz, an der auch die Horterzieher teilnehmen, der zentrale Platz gegeben. Sie ist die Basis, die Säule, ja, die Seele der Schule. Alle Prozesse, Schüler*innen betreffend, sollen auch von allen gewusst, beurteilt, beschlossen und dadurch mitverantwortet werden können. Insofern ist die Waldorfschule ein echtes Gemeinschaftswerk. Mit Absicht wird also eine einzelne Leitungsperson abgelehnt. Trotz mancher Mühen, die damit auch verbunden sind, habe ich mir eine solche Leitungsperson nicht gewünscht, zu keiner Zeit.

Haben Dir die vielen langen Sitzungen, um einmütige Entscheidungen treffen zu können, neben den vielen Fächern, die Du vorbereiten musstest, nicht zu viel Zeit geraubt?

Einmütige Entscheidungen treffen zu können erfordert begründete Urteile, viele Überlegungen, Mitdenken, Nachdenken usw. Das braucht tatsächlich viel Zeit, denn alle Kolleginnen und Kollegen sollten ein gut durchdachtes Für oder Gegen abgeben. Es geht eben nicht um bloße Abstimmung, sondern um das Erwägen der Gründe. Und nur dadurch wird jeder zum Mit-Arbeiter, Mit-Gestalter, Mit-Verantwortlichen. Deshalb würde ich darin keinen „Raub“ an Zeit sehen. Eine Zusammenarbeit, bei der eventuell eine Mehrheit über eine Minderheit bestimmt, ist dann nicht wirklich möglich.

Was würdest Du verbessern wollen, wenn Du heute noch an der Schule tätig wärst?

Verbessern wollen, aber leider nicht können, würde ich die Schulfinanzierung. Dann könnten beispielsweise die Klassenlehrer sich ausschließlich auf den ohnehin umfangreichen Hauptunterricht konzentrieren, der neben dem Fachinhalt noch zwei weitere Schwerpunkte hat und diesen gewissermaßen umschließen. Da der Hauptunterricht allein das Deputat für ein volles Gehalt nicht erbringt, muss noch Fachunterricht geleistet werden. Für diesen könnte man bei ausreichender Finanzierung noch weitere Lehrer*innen einstellen. Das wäre eine echte Entlastung.

Wie sind Deine Kinder mit der Schule klar gekommen?

Innerhalb des Schulgeschehens sind sie wie ihre Mitschüler*innen mal mit Freude und Lust oder Begeisterung und mal mit etwas weniger davon klar gekommen. Allerdings erlebten sie ein wirkliches Manko dadurch, dass ich viel zu wenig Zeit für ihre Belange hatte. Eine echt absurde Situation.

In welche Schule(n) gehen Deine Enkelkinder?

Von 14 Enkelkindern sind 12 schulpflichtig, und außer zweien besuchen alle eine Waldorfschule.

Wie demokratisch ist die Waldorfschule?

Freie Meinungsäußerungen, Mitspracherecht und ähnliches sind nicht nur erlaubt sondern notwendig.

Welche Mitsprachemöglichkeiten haben die Kinder und die Eltern?

Für die Kinder gibt es wöchentliche Klassenleiterstunde oder bei Bedarf für die Eltern Einzelgespräche, Elternsprechstunde, Vorstand, Elternabende und Eltern-Lehrer-Beirat, für die älteren Schüler*innen Klassensprecher und Schülerrat.

Denkst Du gern zurück an die Aufbruchszeit?

Uneingeschränktes Ja. Und das muss ohne Begründung genügen.

Vielen Dank, liebe Virginia!