Im Jahr 1989, dem 40. Jahr des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), wurde offensichtlich, dass sich immer mehr Menschen von der Idee eines Sozialismus abwendeten, bei dem die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die führende Rolle einnahm. Verfallende Innenstädte, eine vielfach marode Infrastruktur, eine zerstörte Umwelt sowie ein beschränktes Warenangebot waren die eine Seite der Medaille. Fehlende Meinungs- und Reisefreiheit, Wahlfälschungen, fehlende Gewaltenteilung, zunehmende Repressionen gegen Andersdenkende sowie Bespitzelungen von Bürgern durch die Staatssicherheit (Stasi) bildeten die andere Seite.
Endlich demokratische und freie Schulen?
Die Friedliche Revolution in der DDR erhielt ganz wesentliche Impulse von den Demonstrationen und Bürgerinitiativen, die von Leipzig ausgingen. Hier fanden die großen Montagsdemonstrationen statt, an denen auch viele Gäste von außerhalb teilnahmen. Zuerst in Leipzig wurden Demokratie und eine Veränderung des bestehenden Systems von hunderttausenden Demonstrierenden eingefordert. Wesentliche Forderungen waren von Anfang an auf eine Reform des einheitlichen und indoktrinierenden sozialistischen Bildungssystems gerichtet. Dieses sollte endlich einer freien und individuellen Persönlichkeitsentwicklung und nicht mehr länger der Erziehung von staatlich genormten, „allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten“ dienen. Insbesondere in Leipzig bildeten sich starke Bürgerinitiativen für freie und demokratische Schulen heraus.
Die Mehrheit der Eltern wünschte sich bundesdeutsche Schulformen und vor allem die Einrichtung von Gymnasien. Die in den alten Ländern geführten Schulstrukturdebatten interessierten die Leipziger Lehrkräfte und Eltern weniger. Ihre Forderungen zielten auf eine innere Reform der Schule, neue Inhalte, ein anderes Menschenbild und neue Lern- und Lehrformen. Ebenso waren Offenheit für ein anderes Miteinander der gegenseitigen Wertschätzung im Kollegium, ein entspannteres Lehrer-Schülerverhältnis sowie echte Mitspracherechte der Lernenden und Eltern gefragt. Seit dem Rücktritt der Volksbildungsministerin im November 1989 bis zur Verabschiedung des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen am 03.07.1991 nutzen viele Schulen - erstmals in Schulkonferenzen zusammen mit Eltern und Lernenden - ihre Freiräume zur Profilierung und Neuausrichtung.
Stasibelastete Lehrkräfte wurden entlassen, Parteimitgliedschaften standen einer Weiterbeschäftigung nicht im Wege. Schulleitungen mussten die Vertrauensfrage stellen und sich vom Kollegium wählen lassen. Zum Schuljahresende 1992 wurden in Sachsen alle allgemeinbildenden DDR-Schulen geschlossen. Lernende und Lehrkräfte verteilten sich ab dem Schuljahresbeginn 1992/1993 auf die neu geschaffenen Grundschulen, Mittelschulen, Gymnasien sowie Förderschulen.
In diesem Teil der Ausstellung zeigen wir, …
wie die allgemeine
Situation in der
zweitgrößten Stadt
der DDR am
Vorabend der
Revolution
1989 war
welche wichtigen
Ereignisse und
Meilensteine die
Friedliche Revolution
in Leipzig
kennzeichneten
welche vielfältigen
pädagogischen Ideen
in verschiedenen
Bürgerinitiativen in
Leipzig entwickelt und
umgesetzt wurden
wie das
DDR-Schulsystem
„umgekrempelt“ und
ein neues Schulgesetz
für Sachsen
verabschiedet wurde
Leipzig am Vorabend der friedlichen Revolution –
die Idee des demokratischen Sozialismus ist ausgeträumt
Alltagsleben in Leipzig-
zwischen bescheidenem Wohlstand und Verfall
Die Stadt verfiel zusehends, weil über Jahrzehnte nichts an den ursprünglich prachtvollen Gründerzeithäusern repariert wurde. Ein Fünftel der Menschen in Leipzig wohnte in den neu errichteten Plattenbausiedlungen mit Fernwärmenetz am Stadtrand. Das Warenangebot des täglichen Lebens bestand zumeist aus regionalen und saisonalen Produkten, die in der DDR und in den sozialistischen Bruderländern produziert wurden. Die verheerenden Umweltschäden konnte jeder sehen und riechen.
Rätesystem versus Menschenrechte
Die Stadt Leipzig wurde von einem Rat der Stadt geführt, der dem Rat des Bezirkes unterstand und dieser wiederum dem Staatsrat. Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bildete das oberste Machtorgan.
KSZE Material Stasi zum Umgang mit Menschenrechten 1988 Europäische Menschenrechtskonvention Erste Verfassung der DDR
Es wurde unterstützt vom Staatssicherheitsdienst (Stasi) als „Schild und Schwert der Partei“ sowie den Grenztruppen, die eine Flucht aus der DDR mit Waffengewalt verhinderten. Kampfgruppen in den Betrieben sollten jederzeit die sozialistischen Errungenschaften auch mit Waffengewalt verteidigen. Die Freie Deutschen Jugend (FDJ) galt als „Kampfreserve der Partei“.
Die 1950 in Rom verabschiedete Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wurde von der DDR-Regierung nicht unterzeichnet. Dennoch sollten die Verfassungen der DDR aus den Jahren 1949, 1968 und 1974 die DDR wie einen demokratischen Rechtsstaat mit sozialistischer Prägung aussehen lassen.
1975 unterzeichnete die DDR-Führung auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) die „Schlussakte von Helsinki“ und verpflichtete sich, die Menschenrechte ohne Einschränkung zu gewähren. Allerdings wurden zentrale Menschenrechte wie Freizügigkeit, Reisefreiheit, Freiheit der Wohnung, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit oder das Wahl- und Postgeheimnis regelmäßig missachtet.
Die Friedliche Revolution in Leipzig 1989 –
ein Sieg mutiger Leipziger Menschen
Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche
Bereits seit dem Jahr 1981 fanden jeden Montag um 17.00 Uhr Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche statt. Es ging um den Erhalt des Friedens angesichts der atomaren Hochrüstung zu beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“. Ebenso wurde die Freilassung der politischen Gefangenen, die Einhaltung von Menschenrechten sowie ein Stopp der immer unerträglicheren Umweltverschmutzung angemahnt.
Zu den Leipziger Bürgerrechtsgruppen gehörten Initiativen wie „Frauen für den Frieden“, die „Arbeitsgruppe Menschenrechte“, der „Arbeitskreis Gerechtigkeit“, die „Arbeitsgruppe Umweltschutz“, die „Initiative Frieden und Menschenrechte“, die „Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua“ und andere. Viele nahmen sich die Solidarnosc-Bewegung in Polen mit dem Runden Tisch in Warschau 1988, die „Charta 77“mit Vaclav Havel in Prag und auch die sowjetischen Reformen mit Glasnost und Perestroika ab 1985 unter Michail Gorbatschow zum Vorbild.
„Schwerter zu Pflugscharen“, das Symbol der ostdeutschen Friedensbewegung seit 1981, trugen viele Jugendliche als Aufnäher am Ärmel ihrer Parkas und Jeansjacken. Mit diesem Symbol bekamen sie in ihren Schulen massive Probleme. Immer mehr ungenehmigte Demonstrationen fanden wegen der extrem verdreckten Luft und der toten Flüsse in Leipzig statt. Auch der Stadtkirchentag und das Leipziger Straßenmusikfestival im Juni 1989, organisiert durch die jugendliche Leipziger Oppositionsszene, mobilisierten durch die zahlreichen Festnahmen weitere neue Protestbewegungen.
Offene Grenzen – der DDR läuft ihre Jugend davon
Die Fernsehbilder von jungen Menschen, die zu Zehntausenden mit ihren Familien über die ungarische Grenze und die westdeutschen Botschaften in Warschau und Prag in den Westen flüchteten, brachten das weiterhin gezeichnete Bild der DDR als „Vorzeigeland des Ostblocks“ zum Einsturz. Erich Honecker, Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Staatsrats der DDR, lehnte jedoch alle Reformen ab.
Am 10. September 1989 öffnete Ungarn seine bis dahin streng bewachte Grenze zu Österreich.
Das Wunder von Leipzig am Tag der Entscheidung
Im Anschluss an die Friedensgebete am 09. Oktober 1989 in allen Leipziger Innenstadtkirchen formierte sich um 18:30 Uhr ein riesiger Demonstrationszug. 70.000 Menschen zogen gewaltfrei vom Augustusplatz zum Hauptbahnhof auf den Leipziger Ringstraßen weiter bis zum Neuen Rathaus.
Trotz der großen Befürchtungen der Demonstrierenden vor einem Schießbefehl und vor weiteren Verhaftungen blieb jedoch alles friedlich. Viele haben dies als das Wunder von Leipzig angesehen.
20.000 Flugblätter der Bürgerrechtsgruppen mit einem Appell zur Gewaltlosigkeit und der Aufruf zur Besonnenheit der "Leipziger Sechs" über den Stadtfunk sorgten dafür, dass keine Scheibe zu Bruch ging und kein Polizist Gewalt einsetzte.
Die Ereignisse überschlagen sich
Die Montagsdemonstrationen, die sich von Leipzig aus auf viele Städte in der DDR ausbreiteten, veränderten in atemberaubendem Tempo das politische Geschehen. Aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ wurde immer häufiger „Wir sind ein Volk“. Die Forderungen nach Wiedervereinigung der DDR mit der BRD übertönten die Rufe nach einer Rettung der DDR und einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ („Dritter Weg“).
Am 03. November 1989 trat der Leipziger Oberbürgermeister Bernd Seidel (SED) zurück.
Am 07. November trat die DDR-Regierung in Berlin zurück.
Am 09. November forderten Tausende in Berlin die Öffnung der Mauer.
Am 04. Dezember 1989 besetzten Bürgerrechtsgruppen in Leipzig die Stasizentrale in der „Runden Ecke“. Am 05. Januar musste die SED-Stadtleitung ihr Haus in der Bernhard-Göring-Straße 164 räumen. Daraus entstand das „Haus der Demokratie“ für die Unterbringung der vielen neuen Bürgerinitiativen.
Runde Tische als Übergangsregierung
Am 01. Dezember 1989 kam es in den Räumen der Universität Leipzig zu einem ersten Treffen oppositioneller Gruppen mit der SED, den Blockparteien und den Verwaltungen. In zwei weiteren Treffen wurde der Runde Tisch der Stadt Leipzig (RTSL) verabredet, der am 17. Januar 1990 mit 30 stimmberechtigten Parteien – von den Funktionären der alten Staatsmacht bis hin zu den neuen Mandatsträgern der verschiedenen Bürgerrechtsgruppen – im Ratsplenarsaal des Neuen Rathauses zusammentrat. Am 15.02.1990 bildete sich als eine der 24 Kommissionen auch die Kommission Bildung des RTSL.
Nach der Auflösung des Stadtparlaments übernahm der Runde Tisch Leipzig operative Steuerungs- und Kontrollaufgaben, damit das Alltagsleben in der Stadt und auch der Schulbetrieb weiter funktionieren konnten. Die alten Machthaber wurden nicht entmachtet. Vielmehr wurde mit ihnen verhandelt, um so eine „gewaltfreie Institutionalisierung der Demokratie zu gewährleisten“.
Francesca Weil: Weniger als Feigenblätter… oder Institutionen zivilgesellschaftlichen Engagements? Die Runden Tische 1989/90 in der DDR. Online-Ausgabe im Deutschland Archiv, 24.3.2016, www.bpb.de/223436.
Der RTSL-Moderator Pfarrer Hans-Jürgen Sievers resümierte dazu 20 Jahre später: „Der Runde Tisch hatte kaum eine Möglichkeit, die Durchführung seiner Beschlüsse zu kontrollieren, geschweige denn die Macht, ihre Durchsetzung zu erzwingen (…) Es herrschte damals eine große Aufbruchsstimmung, die Leipzig geprägt hat und die wir nicht vergessen sollten.“
Hans-Jürgen Sievers (Hrsg.): Brückenschlag zur Demokratie. In: Stundenbuch einer deutschen Revolution. Die Leipziger Kirchen im Herbst 1989. Leipzig, 2010, S. 358f.
Gewaltfreier Übergang zu den
ersten freien Wahlen in der DDR
Mit dem Runden Tisch der Stadt Leipzig wurden im Frühjahr 1990 die Voraussetzungen für die ersten freien Wahlen zur Volkskammer und für die Regionalwahlen gesichert.
Träume von einer freien und demokratischen Schule –
Schulinitiativen in Leipzig
Keine Reformen –
weiterhin dogmatische Bildungspolitik
Im Juni 1989 fand der IX. Pädagogische Kongress der DDR statt. Von diesem erhofften sich Lehrkräfte, Eltern und auch die Kinder und Jugendlichen in Zeiten von Glasnost und Perestroika Anzeichen für Reformen des erstarrten und immer stärker ideologisierten und militarisierten Bildungssystems.
Im Vorfeld des IX. Pädagogischen Kongresses wurde dazu aufgerufen, konstruktive Vorschläge und Ideen zur Weiterentwicklung des Schulsystems einzureichen. Eingegangene kritische Briefe, wie die des Vorbereitungskreises Leipziger kirchlicher Basisgruppen oder der Leipziger Mutter Gisela Kallenbach, wurden ignoriert. Einzelne Eingaben, wie die der Arbeitsgruppe der Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik, wurden sogar als verfassungsfeindlich eingestuft und an die Stasi weitergeleitet.
Stattdessen feierte die Volksbildungsministerin Margot Honecker am 12. Juni 1989 in einer fünfstündigen Lobrede das Erreichte. Margot Honecker, die Ehefrau des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, war seit 1963 Volksbildungsministerin der DDR. Sie trat am 02.11.1989 von allen Ämtern zurück und ging später zusammen mit ihrem Mann ins Exil nach Chile.
Sofortmaßnahmen in den Leipziger Schulen
Der neue bestellte Amtsleiter des Schulverwaltungsamtes Wolfgang Tiefensee (SPD) setzte erste Sofortmaßnahmen um. Er rief alle Leipziger Schulen im Sommer 1990 dazu auf, „Profilierungspapiere“ zur pädagogischen Neuorientierung zu schreiben. Auch Eltern konnten sich über die Schulkonferenzen an den Debatten beteiligen.
Die bei einigen Jugendlichen besonders verhassten Staatsjugendorganisationen Pioniere und FDJ und ihre Symbole, die Traditionskabinette, die Fahnen und Trommeln, die Pionierleiterzimmer, auch die obligatorischen Bilder von Erich Honecker und weiteren Arbeiterführern in den Lehrerzimmern verschwanden nahezu lautlos. Appellplätze verwandelten sich in Spielplätze. Unterrichtsfächer wie Wehrerziehung und Staatsbürgerkunde landeten zusammen mit ihren Lehrbüchern in Containern.
Viele Staatsbürgerkundelehrer qualifizierten sich zu Ethiklehrern. Die Unterrichtsfächer ESP (Einführung in die sozialistische Produktion) und PA (Produktive Arbeit) konnten und wollten die Betriebe nicht weiterführen. Die Polytechniklehrkräfte suchten neue Arbeitsstellen. Schulnamen von Kommunisten, wie Walter Ulbricht, Karl Marx und Georgi Dimitroff wurden noch 1990 abgelegt. Vor allem die Gymnasien entschieden sich für neue Schulnamen.
Für den Religionsunterricht gab es kaum Lehrpersonal. Viele Angestellte der Kirche hatten Bedenken vor der Zusammenarbeit mit den zumeist atheistischen Kollegien. Politisch besonders belastete Lehrkräfte sowie Lehrkräfte, die für die Stasi gearbeitet haben, mussten den Schuldienst verlassen.
Erste Alternativschulen in Leipzig
Noch im Sommer 1990 – die DDR hatte sich noch nicht endgültig aufgelöst - begann die Freie Waldorfschule in einer leerstehenden Kinderkombination in Leipzig-Grünau. Zeitgleich eröffnete die Freie Schule Connewitz in einem leerstehenden Kindergarten. Beide Schulen waren die ersten Schulen in freier Trägerschaft und wurden noch vom Berliner Bildungsministerium als Gesamtschulen mit den Klassenstufen 1 bis 10/12 genehmigt, weil die föderalen Länderstrukturen erst ab dem Beitritt im Oktober 1990 galten.
Im Jahr 1991 bekam die Nachbarschaftsschule Leipzig als städtische Schule eine Genehmigung für einen jahrgangsübergreifenden Unterricht in den Klassenstufen 1 bis 6 in einem zunächst zweijährigen Schulversuch. Ebenso wurden 1991 das Evangelische Schulzentrum und das König-Albert-Gymnasium eröffnet. Weitere Schulen in freier Trägerschaft folgten.
Die frei gewählte Volkskammer verabschiedete am 17. August 1990 ein Gesetz für Schulen in freier Trägerschaft und schuf damit noch in den letzten Tagen der DDR eine neue Rechtsgrundlage. Es wurde in den Einigungsvertrag übernommen und galt in allen ostdeutschen Ländern bis zur Verabschiedung eigener Ländergesetze. Mit den überwiegend von Elterninitiativen gegründeten Schulen in der Stadt Leipzig boten sich erstmals alternative Schulmodelle als Wahlmöglichkeiten für Eltern und Kinder.
Verlorengegangenes Vertrauen in die Pädagogik
an der Karl-Marx-Universität und der
Pädagogischen Hochschule „Clara Zetkin“
Die SED-Grundorganisation der Sektion Pädagogik der Karl-Marx-Universität Leipzig veröffentlichte am 23. Oktober 1989 in der Deutschen Lehrerzeitung eine Erklärung, weil die "Erneuerung unserer sozialistischen Schule unumgänglich geworden ist. Dabei gehen wir unbeirrt von dem Wissen aus, daß Bildung und Erziehung im Interesse der Gesellschaft und jedes einzelnen Bürgers heute und in Zukunft nur durch ein sozialistisches Schulwesen gewährleistet werden kann...
Diesen notwendigen Prozeß kritischer Reinigung dürfen wir nicht den Gegnern des Sozialismus überlassen." Ab Sommer 1990 wurde dann von der Sektion an neuen Konzepten für ein verändertes Schulsystem gearbeitet. Auch an der Pädagogischen Hochschule "Clara Zetkin" wurden erste Reformschritte eingeleitet. Dazu zählten öffentliche Ringvorlesungen zur Schulvielfalt in der BRD und zur Reformpädagogik.
An der Karl-Marx-Universität „rumorte“ es. 250 Hochschullehrkräfte und wissenschaftliche Mitarbeitende der Sektionen Biowissenschaften, Chemie, Germanistk, Mathematik, Physik und Sprachwissenschaften sowie des Bereiches Medizin unterschrieben eine „Erklärung einer Initiativgruppe zur demokratischen Erneuerung der Universität“. Diese übergaben sie am 18.06.1990 an Magnifizenz Prof. Dr. Hennig. Die FAZ titelte am 25. Juni 1990 „Die alten Helden sammeln sich im SED-Bunker. In Leipzig haben die Marxisten nicht aufgegeben“.
Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte: Geschichte der Universität Leipzig 1409-2009. Das zwanzigste Jahrhundert. Leipzig, 2010, S. 793.
Die systemnahen SED-Funktionäre blieben vorerst in den Kommissionen und Arbeitsgruppen in der Überzahl. Am 19.12.1990 erging für die Sektion Pädagogik der Abwicklungsbeschluss des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft auf der Basis der Dienstberatung der Rektoren am 11.12.1990. Ende Dezember wurden die meisten Hochschullehrkräfte über ihre fristlose Kündigung informiert. Ebenso wurden die Dozentinnen und Dozenten für Pädagogik der Pädagogischen Hochschule "Clara Zetkin" nach entsprechenden Landtagsbeschlüssen entlassen.
Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte: Geschichte der Universität Leipzig 1409-2009. Das zwanzigste Jahrhundert. Leipzig, 2010, S. 793.
Zum Wintersemester 1992/1993 wurde die Erziehungswissenschaftliche Fakultät an der Universität Leipzig gegründet. Die Pädagogische Hochschule Leipzig und das Institut für Lehrerbildung Leipzig wurden mit Teilbereichen integriert. „Von den ehemals etwa 200 Stellen stehen 53 zur Besetzung zur Verfügung“.
Adolf Kell: Bericht über die Vorstandskommission. Entwicklung der Erziehungswissenschaften in den neuen Ländern. In: Erziehungswissenschaft, H. 7, 1993, S. 10-39. Online:
https://www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Zeitschrift_Erziehungswissenschaft/EW_7.pdf
Das Sächsische Schulgesetz von 1991 –
Transformation eines Schulsystems
Bildungsartikel in der Verfassung
des Freistaats Sachsen
Die Leipziger Arbeitsgruppe Schulrecht bei der Initiative Freie Pädagogik beteiligte sich bereits 1990 mit Vorschlägen für den Bildungsartikel der künftigen sächsischen Verfassung. Einige dieser Forderungen gingen in den späteren Bildungsartikel der sächsischen Verfassung ein und atmen bis heute den Geist des neunundachtziger Herbstes.
Verfassungsvorschlag zu freien Schulen
Bildungsartikel in der Verfassung des Freistaats Sachsen
Forderungen des Forums Freie Pädagogik an den Bildungsartikel in der sächsischen Verfassung:
- Chancengleichheit verschiedener Schulmodelle – rechtlich und finanziell (kein Schulgeld!)
- unabhängige Schulaufsicht
- veränderte Lehrerausbildung
- mehr pädagogische Freiheit für alle Schulen
- Recht der Eltern auf freie Schulwahl
- Recht der Schule auf Selbstverwaltung und eigene pädagogische Konzepte
- Trennung von Schulaufsicht und Verwaltung
Artikel 101 [Grundsätze der Erziehung und Bildung]
(1) Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewußtsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.
(2) 1 Das natürliche Recht der Eltern, Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, bildet die Grundlage des Erziehungs- und Schulwesens. 2 Es ist insbesondere bei dem Zugang zu den verschiedenen Schularten zu achten.
Artikel 102 [Schulwesen, Lernmittelfreiheit]
(1) 1 Das Land gewährleistet das Recht auf Schulbildung. 2 Es besteht allgemeine Schulpflicht.
(2) Für die Bildung der Jugend sorgen Schulen in öffentlicher und in freier Trägerschaft.
(3) 1 Das Recht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft wird gewährleistet. 2 Nehmen solche Schulen die Aufgaben von Schulen in öffentlicher Trägerschaft wahr, bedürfen sie der Genehmigung des Freistaates. 3 Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn sie in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den Schulen in öffentlicher Trägerschaft zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.
4 Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
(4) 1 Unterricht und Lernmittel an den Schulen in öffentlicher Trägerschaft sind unentgeltlich. 2 Soweit Schulen in freier Trägerschaft, welche die Aufgaben von Schulen in öffentlicher Trägerschaft wahrnehmen, eine gleichartige Befreiung gewähren, haben sie Anspruch auf finanziellen Ausgleich.
(5) Das Nähere bestimmt ein Gesetz.
Ein neues Sächsisches Schulgesetz oder
die Übernahme westdeutscher Rahmenbedingungen
für ostdeutsche Schulen?
Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 03.10.1990 und der Neugründung der ostdeutschen Bundesländer löste sich das Berliner Bildungsministerium auf. Der letzte Bildungsminister der DDR, Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer (CDU), wurde erster sächsischer Wissenschaftsminister. Erste Kultusministerin im Freistaat Sachsen wurde am 08.11.1990 Stefanie Rehm (CDU).
Das neue Sächsische Schulgesetz trat am 01.08.1991 in Kraft. Das Partnerland Baden- Württemberg gestaltete mit seinen zur Hilfe entsendeten „Leihbeamten“ maßgeblich den Aufbau des neuen Schulsystems im Freistaat Sachsen mit. Dadurch fanden auch bildungsstrukturelle und bildungsrechtliche Regelungen aus Baden-Württemberg Eingang in die neuen Gesetzlichkeiten.
Als sächsische Eigenart konnten sich unter anderem die Zweigliedrigkeit des Schulsystems in der Oberstufe, ein zwölfjähriger Bildungsgang bis zum Abitur sowie die Schulhorte für die Grundschulen erhalten.
Längst nicht alle Ideen zur Schulentwicklung, die von Basisinitiativen, Schulkonferenzen und den Runden Tischen erarbeitet wurden, konnten umgesetzt werden. Für manche Initiativen stellte dies eine Enttäuschung dar. Andere ergriffen die sich bietenden Chancen, Schule im gegebenen Rahmen neu zu denken und zu gestalten.
Freie Schulen -
Verfassungsstreit vorprogrammiert?
Das sächsische Schulgesetz vom 03.07.1991 sowie das Gesetz über Schulen in Freier Trägerschaft vom 27.05.1992 unterscheiden sich wesentlich von den Intentionen des Bildungsartikels in der Sächsischen Verfassung, die am 06.06.1992 in Kraft trat. Dies führte zu einem jahrelangen Rechtsstreit, der 2013 vom Verfassungsgericht zugunsten der Freien Schulen entschieden wurde.
Schulen in freier Trägerschaft
Interview mit Prof. Dr. Johann Peter Vogel
Standorte Schulen in freier Trägerschaft in Leipzig heute
Laut Verfassungsartikel 101 sollen alle Schulen, die dies wünschen, dieselben Freiheitsrechte in ihrer Gestaltung bekommen. Alle Schulen, die kein Schulgeld erheben, haben laut Verfassung einen Anspruch auf den finanziellen Ausgleich für das entgangene Schulgeld. Tatsächlich wurde aber durch das sächsische Gesetz über Schulen in Freier Trägerschaft die Schulgeldregelung und eine Wartefrist von drei Jahren bis zur Finanzierung eingeführt.
Die Personal- und Sachkosten werden nur anteilig gewährt. Am 15.11.2013 entschied das Sächsische Verfassungsgericht, dass diese Regelung nicht verfassungskonform ist.
Leipzigs neues Schulnetz
Zum Schuljahr 1992/1993 trat die Schulnetzreform in Leipzig in Kraft. Dafür wurden die bestehenden zehnklassigen POS aufgeteilt in Grund- und Mittelschulen bzw. Grundschulen und Gymnasien. Mithilfe ausgefeilter Umzugspläne wurden die vorhandenen Schulbauten den neuen Schulen zugeordnet und deren Kollegien neu zusammengestellt.
Die Schulen konnten von nun an ihre Schulhäuser nach ihren neuen pädagogischen Profilen gestalten. Die Schulnetzplanung und die pädagogische Ausgestaltung der Schulentwicklung wurden vom neu gegründeten Stadtelternrat Leipzig von Anfang an kritisch begleitet.