1921 nahm die Versuchsschule Connewitz (54. Volksschule) die Arbeit auf. Die Versuchsschule startete zunächst mit 16 Jungenklassen (Klassenstufe 1 bis 8). Damit wurde ein lang gehegter Wunsch des Leipziger Lehrervereins endlich Wirklichkeit – es wurde eine weltliche Volksschule eingerichtet, in der die zentralen Ideen der Arbeitsschulpädagogik erprobt werden konnten. Der Unterricht war durch zahlreiche reformpädagogische Elemente, wie z.B. einen sinnlich-handlungsorientierten Gesamtunterricht mit Lebenswelt- und Neigungsbezug angereichert. Zwischen Lehrkräften und Schülern sollte ein vertrauensvolles Verhältnis bestehen und das Gemeinschaftsgefühl entwickelt werden. Deshalb wurden ein menschlich- demokratischer Erziehungsstil sowie altersgemäße Mitberatungs- und Mitbestimmungsrechte praktiziert.
Gescheitert an Demokratie oder Ideologie?
Der Schulversuch wurde vom Institut für experimentelle Pädagogik des Leipziger Lehrervereins (LLV) wissenschaftlich begleitet und stieß in der pädagogischen Fachwelt deutschlandweit und international auf größte Resonanz. Ein großes Konfliktpotential ergab sich von Anfang an daraus, dass die weltliche Einheitsschule auf dem „Bezirkszwang“ bestand, sodass alle Eltern aus dem festgelegten Wohnbezirk ihre Knaben ohne Ausnahme in dieser Versuchsschule beschulen lassen mussten und ihre Kinder nicht in die „normale“ Volksschulen im gleichen Haus schicken durften. Dieser Ansatz, der aus Sicht der Schulforschung sinnvoll ist, traf jedoch auf den Widerstand der Eltern, die keine Versuchsschulbedingungen für ihre Kinder wollten.
Da alle Lehrkräfte der weltlichen Schule eigenen Religionsunterricht ablehnten, musste dieser von Geistlichen erteilt werden. Dies ging vielen christlichen Eltern zu weit. Ebenso lehnten etliche Eltern die „modernen“ Unterrichtsmethoden für ihre Kinder ab. Die Protestaktionen der Eltern reichten von Unterschriftensammlungen über Eingaben an die Landesregierung bis hin zu mehreren Gerichtsprozessen, in deren Folge die Schule den Versuchsschulstatus aufgeben musste, weil sie sich weigerte, den Bezirkszwang aufzuheben.
Die „Kommunistenschule“ in Connewitz –
ein internationaler „Superstar“?
Lehrkräfte des Leipziger Lehrervereins
als Vorkämpfer für den Arbeitsschulgedanken
Im Mai 1919 wurde der Versuchsschulausschuss des Leipziger Lehrervereins (LLV) unter der Leitung von Carl Rössger beauftragt, ein Konzept für eine städtische Versuchsschule zu entwickeln. Diese Forderung war seit 1905 vom LLV immer wieder gestellt worden. Bereits in den Jahren 1911 bis 1913 gab es 24 Versuchsklassen in Leipzig. Im Herbst 1919 lag der Antrag auf Einrichtung der Versuchsschule vor und wurde von den städtischen Behörden genehmigt. Insbesondere der Stadtrat Dr. Bruno Ackermann unterstützte vonseiten der Stadt Leipzig die Einrichtung der Versuchsschule.
Schulrat Ernst Beyer 1919, hier zit. nach Pehnke, A.: Sächsische Reformpädagogik. Traditionen und Perspektiven, Militzke Verlag, Leipzig 1998, S. 44
„Man darf wohl ohne Übertreibung sagen: Wohl kaum in einem Ort Deutschlands finden sich so günstige Vorbedingungen zu einem Versuche, die neuen Gedanken umzusetzen, wie in Leipzig. Hier finden sich Lehrkräfte, die als Vorkämpfer für den Arbeitsschulgedanken eingetreten sind, die in der Methodischen Abteilung des Leipziger Lehrervereins eine Arbeitsgemeinschaft gegründet zur Klärung, allseitigen Begründung und Vertiefung der Idee, die mit ihren Arbeits- und Gesinnungsgenossen in den
Versuchsklassen den Gedanken der Arbeitsschule auf der Unterstufe bereits erprobt und ihre Erfahrungen in dem Buche Gesamtunterricht der pädagogischen Welt zugänglich gemacht haben.“
Grundsätze zur Ausgestaltung einer Versuchsschule, in StAL, SchuA, Kap. V, Nr. 222, B1, BL. 11
„1. Aufgabe der Versuchsschule ist es, die wertvollen Einzelbestrebungen zur Arbeitsschulidee, wie sie in Deutschland, vor allem in Leipzig, seit Jahren theoretisch und zum Teil in praktischen Versuchen erarbeitet wurden, in einem einheitlichen großen Versuche zu verwirklichen und so durch wissenschaftlich geleitete Erprobung die Grundlagen zur inneren Neugestaltung des Leipziger Volksschulwesens zu schaffen.
2. Zur Durchführung des Versuchs wird ein besonderer Lehrkörper aus geeigneten freiwilligen Lehrkräften gebildet. Er bildet eine Arbeitsgemeinschaft, die in Verbindung mit dem Bezirksschulrat den Gesamtlehrplan entwirft, ihn durchführt, die Ergebnisse niederlegt und darüber berichtet.
3. Die gesetzlichen Ziele für Unter- und Oberstufe gelten auch für die Versuchsschule
4. Im übrigen setzt der Charakter des Versuchs völlige pädagogische Freiheit der Lehrer und kollegiale Leitung voraus.
5. Zur wissenschaftlichen Vertiefung des Versuchs ist eine enge Verbindung mit dem Psychologischen Institut des Lehrervereins notwendig. Diesem sind einige Arbeitsräume im Gebäude der Versuchsschule anzuweisen.
6. Die Versuchsschule erhält einen in der üblichen Weise deutlich abgegrenzten Volksschulbezirk.
7. Während der Teilnahme an dem Versuch ist die Pflichtzahl der Unterrichtsstunden des Lehrers auf höchstens 20 zu bemessen.
8. Vor dem Beginn des eigentlichen Versuchs übernimmt der Lehrkörper der Versuchsschule die Aufgabe, die erforderliche
Durchbildung seiner Mitglieder für die Versuchsarbeit in besonderen (mit städtischer Unterstützung zu veranstaltenden) psychologischen und technischen Kursen zu vertiefen.“
Die Lehrkräfte der Versuchsschule hatten sich für den Einsatz an der Schule beworben und wurden vom Schulrat Ernst Beyer ausgewählt. Viele von ihnen waren bereits zuvor in den Jahren 1911 bis 1913 in den Leipziger Elementarversuchsklassen eingesetzt und auch in anderen Funktionen im Leipziger Lehrerverein oder im Institut für experimentelle Psychologie und Pädagogik aktiv. Etliche Lehrkräfte veröffentlichten darüber hinaus eigene Beiträge zur Arbeitsschulpädagogik.
Bezirkszwang als
"natürlich bedingte Notwendigkeit"
Für die den Leipziger Lehrerverein und die Lehrkräfte der Versuchsschule war es wichtig, dass die Ergebnisse dieses Schulversuchs auf andere Volksschulen übertragbar sein sollten. Deshalb bestand von Anfang an Konsens, dass die Bedingungen für diese Schule so normal wie möglich sein sollten und alle Kinder aus dem Einzugsgebiet in diese Schule zu gehen hatten („Bezirkszwang“), unabhängig davon, ob ihre Eltern dem Modellversuch und seinen Inhalten zustimmten oder nicht.
Paul Schnabel, 1925, S. 145, hier zit. nach Pehnke, A.: Sächsische Reformpädagogik. Traditionen und Perspektiven, Militzke Verlag, Leipzig 1998, S. 46
Es widerspricht dem Reformpädagogik-Verständnis des Leipziger Lehrervereins, einen Schulversuch „unter besonders zurechtgemachten äußeren, günstigen Verhältnissen … vornehmen zu lassen“.
Die „Kommunistenschule“
Von Anfang an wurde die Versuchsschule als eine „rote“ oder „marxistische“ Schule bezeichnet und als versinkende Volksschule verunglimpft, deren Schüler vor dem Pädagogen-Wahn zu bewahren seien. Dies hing mit den reformorientierten Methoden und ebenso mit der Weigerung des gesamten Kollegiums zusammen, den Religionsunterricht selbst zu erteilen. Manche Eltern trauerten auch den traditionellen Bürgerschulen aus der Kaiserzeit nach.
Rudolf Lehmann, Lehrer an der Versuchsschule, äußerte später über die Eltern, die gegen die Schule agierten:
„Es gab Eltern die der eben verschwundenen Standesschule, wie sie in der Errichtung der Bürgerschulen … vorhanden gewesen waren, nachtrauern. War es ihnen schon unangenehm, daß sie ihre Kinder mit Arbeiterkindern zusammen in dieselbe Schule schicken mussten, so war ihnen die Versuchsschule erst recht verdächtig, weil hier neuartige Arbeitsformen, durch die das Erinnerungsbild ihrer eigenen Schulzeit völlig beiseite geschoben wurde, nicht nur gelegentlich, sondern grundsätzlich angewendet wurden, und weil die Lehrerschaft in ihrer Gesamtheit die Erteilung des bekenntnismäßigen Religionsunterrichts abgelehnt hatte.“
Richard Lehmann: Die Leipziger Versuchsschule. Grundlagen und Erfahrungen. Leipzig, 1931, S. 9.
Paul Georg Münch: Die Kunst Kinder zu unterrichten. Ein unterhaltsam Büchlein über die Arbeitsschule. Leipzig, 1921, S. 56 ff.
Paul Georg Münch, ein weithin bekannter Reformpädagoge, beschrieb in seinem Buch „Die Kunst, Kinder zu unterrichten“ (1921) die Einstellung der Leipziger Lehrerschaft zum Religionsunterricht:
„In der modernen Arbeitsschule wird nichts mehr nachgesagt, nachgeglaubt, nachbekannt, in der neuen Schule geht es um Gewinnung von Überzeugungen! Nichts Glaubensverpflichtendes, nichts Kirchlich-Konfessionelles darf das freie Spiel der Kräfte stören!"
"Die Lehrerschaft will von der Religion zurücktreten, wie Maler und Beschauer vom Kunstwerk, wir wollen Abstand zur Religion gewinnen, um sie desto wirksamer betrachten zu können. Durch objektiven Unterricht in der Religionsgeschichte sollen die Kinder die ewigen Werke schätzen lernen, die das religiöse Kulturgut birgt.“
"Internationaler Superstar"
In der pädagogischen Fachöffentlichkeit wurde die Schule zu einem "internationalen Superstar". Zur zweiten Pädagogischen Woche in Leipzig im Herbst 1922, organisiert vom Leipziger Lehrerverein im Auftrag des deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, besuchten über 1000 Gäste aus dem In- und Ausland den Unterricht und die Vorträge in der Schule.
Verlust der führenden Köpfe
Andreas Pehnke: Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie als wissenschaftlicher Pate für die Verschsklassenprojekte. In Döring, D. & Flöter, J. (Hrsg.): Schule in Leipzig, Aspekte einer achthundertjährigen Geschichte. Universitätsverlag, Leipzig 2011, S. 219 f.
Die vier Junglehrer Rudolf Sieber, Carl Rössger, Otto Erler und Paul Vogel entwickelten ab 1905 im Leipziger Lehrerverein die ersten Ideen für das Leipziger Arbeitsschulmodell. Diese erprobten sie in den Leipziger Elementarversuchsklassen von 1911 bis 1913. Ab 1919 kämpften sie unter der Leitung von Otto Erler für die Einrichtung der Versuchsschule in Leipzig, Rudolf Sieber war 1914 an der Front gefallen.
Otto Erler und Carl Rößger wurden 1921 nach Plauen und Gotha berufen, um dort als Schulräte die Schulreform weiter voranzubringen. Paul Vogel wurde 1921 erster Schulleiter der Versuchsschule, verließ die Schule aber schon 1922 und ging als Schulrat nach Gera. Somit fehlten der Versuchsschule ihre geistigen Väter.
Nicht Gehorsam lehrt sie, sondern selbstständiges
Denken, Überlegen und Handeln
Nicht Gehorsam lehrt sie,
sondern selbstständiges Denken
Ein menschlich-demokratischer Erziehungsstil, ein altersgemäßes Mitberatungs- und Mitbestimmungsrecht sowie die Erziehung zur Selbsttätigkeit waren zentrale Ideen der Versuchsschule Connewitz. Das zeigte sich u.a. auch in der Gestaltung der Klassenzimmer, in denen die traditionelle Sitzordnung aufgelöst wurde.
Otto Erler: Bilder aus der Praxis der Arbeitsschule. Leipzig, 1921, S. 31.
„Unsere Kinder sollen nicht mehr fast die ganze Schulzeit mit schön gefalteten Händen in der Schulbank sitzen und sehen und merken … Nicht Gehorsam lehrt sie, sondern selbstständiges Denken, Überlegen und Handeln; nicht Unterordnung fördert sie, sondern Einordnung, gemeinschaftliches Tun, Kameradschaft, Hilfsbereitschaft.“
“Die Schulbänke (gemeint sind die traditionellen festgeschraubten Pulte mit schrägen Schreibplatten) gestatten keine genügende Bewegungsfreiheit zur Arbeit; sie sind nicht zur Aufstellung von Gefäßen und Apparaten für naturkundliche Versuche und Übungen zu gebrauchen… Die Tische müssen kräftig gebaut, am besten 3 m lang und 0,80 m breit und mit 1 bis 2 großen Tischkästen versehen sein…“
Teilweise ausgesetzte Lehrpläne
Um den Entwicklungsbesonderheiten der Schulanfänger besser zu entsprechen, wurde in den Eingangsklassen der reguläre Lehrplan ausgesetzt und erst später mit dem Lesen- und Schreibenlernen begonnen. Dennoch sollten bis zum Ende des dritten Schuljahres alle Lehrplanziele erreicht werden. Zugleich wurden die Fächer durch einen beschäftigenden Gesamtunterricht ersetzt, der sich an den Interessen und an der Entwicklungsstufe der Kinder orientieren sollte.
Vertrauensverhältnis
Zwischen Lehrkräften und Schülern sollte ein herzliches Verhältnis bestehen und die Kinder sollten Vertrauen gegenüber Lehrkräften aufbauen können.
Rita Scharfe: Leipziger Schulreform. In: Die neuzeitliche deutsche Volksschule. Kongressbericht. Berlin, 1928, S. 345-360.
Die Lehrerin Rita Scharfe wechselte 1921 von der 50. Volksschule an die Versuchsschule Connewitz und begründete dies so:
„Weil mein erster Direktor mir verbot, meine Kinder beim Vornamen zu rufen, und hinzufügte: „Im Verkehr mit den Schülern ist das Beste: zehn Schritte vom Leibe.“ Da war ich froh, dass ich mich bei der Versuchsschule in Connewitz bewerben konnte.“
Wissenschaftliche Erkenntnisse
und individuelle Bedürfnisse von Kindern
Die Lehrerinnen und Lehrer bauten den Unterricht auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und auf den Bedürfnissen ihrer Schüler auf. Dabei berücksichtigten sie die Kenntnisse, Fähigkeiten und Interessen, z.B. im Anfangsunterricht oder in den Neigungskursen.
Andreas Pehnke: Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie als wissenschaftlicher Pate für die Verschsklassenprojekte. In Döring, D. & Flöter, J. (Hrsg.): Schule in Leipzig, Aspekte einer achthundertjährigen Geschichte. Universitätsverlag, Leipzig 2011, S. 219 f.
Katrin Liebers: Historische Konzepte der Beobachtung von Schulneulingen – Impulse für die Diskussion zur Lernprozessbegleitung? In Liebers, K. et al. (Hrsg.): Lernprozessbegleitung und adaptives Lernen in der Grundschule. Sptinger VS, Wiesbaden, 2015.
Die Lehrkräfte der Schule waren eng mit dem Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins verbunden. Viele Testverfahren aus dieser Zeit wurden in Zusammenarbeit von Wissenschaftlern des Instituts und Lehrkräften in der Schule erprobt und weiterentwickelt, z.B. der Beobachtungsbogen für Schulneulinge sowie Begabungsuntersuchungen von Herbert Winkler. Die Lehrerin Rita Scharfe erforschte Zeichnungen von Kindern und deren Bedeutung für das Erkennen der Entwicklung von Kindern.
Gescheitert an christlichen Elternvereinen
und Gutachtern oder an eigenen Idealen?
„Unterschriftenattacken“ von Eltern
gegen die "Selbsterziehungsanstalt"
Trotz zahlreicher Formen einer transparenten Elternarbeit wurde von einigen Eltern die Umsetzung des Arbeitsschulkonzepts sehr kritisch beargwöhnt.
Ab 1923 häuften sich „Unterschriftenattacken“ von Eltern, weil ihre Kinder nicht richtig lernen würden. Zugleich nahmen die Spannungen mit der konfessionellen Elternschaft zu, die nicht hinnehmen wollte, dass der Religionsunterricht nicht von den Lehrkräften, sondern von Geistlichen, erteilt wurde.
Artikel in der Leipziger Abendpost, 26.05.1923
"Wenn Schüler als Indianer verkleidet zum Unterricht kommen, dann findet man das in dieser Versuchsschule ganz in der Ordnung, es gibt so etwas willkommene Anregung und Anknüpfung für die neuen Lehr- und Lernmethoden.“
Quelle noch ergänzen
"Das wäre eine schöne Erziehung, die es fertig bringt, daß die Kinder entgegen dem Willen der Eltern handeln!"
StadtAL, SchuA, Kap. V, Nr. 222, Bd.I, Bl. 286-289, zit. nach Urban, 2021
Was waren die vor Gericht vorgebrachten Kritikpunkte an der Schule? Das Fehlen eines geordneten Lehr- und Stundenplanes, ein höherer Wert der körperlichen Ausbildung als der geistigen, wenige oder keine Hausaufgaben, Handfertigkeitsunterricht als Spielerei, schmutzige Schüler, ein Traumbuch für Schülerinnen, Lehrspaziergänge als Vernachlässigung der erzieherischen Pflichten, ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, Respektswidrigkeit der Schule, fehlende Disziplin, unvorschriftsmäßiger Religions- oder Moralunterricht sowie ein Sinken des moralischen Bewusstseins wegen fehlender Religion.
Gerichtlich festgestellt:
Ungesetzlichkeit der Versuchsschule
Das Landgericht gab im Februar 1924 dem Vater Recht und bestätigte die Unrechtmäßigkeit der Versuchsschule: „Die Versuchsschule ist nicht eine Schule im Sinne des Reichsvolksschulgesetzes, sie hat eine ganz andere pädagogische Basis. Ein Urteil über die Vorzüge und Nachteile … will und kann das Gericht nicht abgeben.“ Für das Gericht spielte auch das Gutachten von Universitätsprof. Dr. Theodor Litt eine wichtige Rolle. Ihm wurde später vorgeworfen, ein Gutachten geschrieben zu haben, obwohl er die Schule gar nicht kenne.
Aus dem Gutachten von Prof. Dr. Theodor Litt:
„Ein Urteil darüber abzugeben, muss ich ablehnen. Dazu gehört eine genauere Kenntnis der Schule. Ich kenne sie nur aus einer Arbeitskonferenz des Kollegiums, aus der ich einen nachhaltigen Eindruck von dem starken Verantwortungsgefühl desselben mitgenommen habe. Ich glaube dass die Kollegen dieser Schule pädagogische Idealisten sind, die nicht mit beiden Füßen auf der Erde stehen, dass Ziel und Methode dieser Schule über die Art der übrigen wesentlich hinausgeht und dass die Versuchsschule in ihrer Arbeit zu den Schülern von einer ganz neuen pädagogischen Weltanschauung ausgeht."
StadtAL SchuA, Kap. V, Nr. 222.
"Es gibt aber Kinder, und deren Zahl ist nicht klein, denen die Freiheit, die ihnen in der Versuchsschule gewährt wird, gefährlich werden kann, für die es besser ist, in eine straffere Schulform hineinzukommen.“
Die Leipziger Lehrerzeitung Nr. 312 kommentierte das Urteil wie folgt:
„Es sei schwierig, eine juristische Formulierung zu finden. Lehrziel und Methode seien hier nicht so wichtig und auf belangloseUnterschiede komme es dabei nicht an. Hier habe ein neuer pädagogischer Geist, der auch anderwärts vorhanden sei, eine besonders prägnante Form gefunden. Diese neue 'pädagogische Weltanschauung' vertrete einen so genannten Gesamtunterricht, in dem die Anlagen und Kräfte des Kindes sich frei entfalten könnten."
"Dieser Unterricht verzichte grundsätzlich auf eine stundenplanmäßige Fächerung und in sittlicher Hinsicht mit dem Gedanken der Gemeinschaftserziehung auch auf die Strafe. Mansolle diese auf Optimismus gegründeten Ideen ruhig wachsen lassen, dann komme das Ergebnis von selbst."
Aus der Versuchsschule
wird eine reguläre Volksschule
Im Dezember 1924 ordnete das Volksbildungsministerium die Aufhebung des Bezirkszwanges an, um die Versuchsschule als solche weiterzuführen. Die Lehrerschaft verzichtete unter diesen Umständen auf eine Weiterführung des Versuchs, da mit dieser Aufhebung die aus ihrer Sicht wichtigste Vorbedingung wegfiele. Deshalb beschlossen Schulausschuss und Stadtverordnetenversammlung 1925 mehrheitlich, die Schule als normale Volksschule weiterzuführen. (StadtAL, SchuA, Kap. V, Nr. 222, Bd.I, Bl. 286-289)
Ein Nachruf erschien auch in der Leipziger Volkszeitung am 21. Januar 1925:
„Es ist erreicht! Von Ostern 1925 an gibt es keine Leipziger Versuchsschule mehr. Christliche Bosheit, Dummheit und Niedertracht haben es - unterstützt von einem gefälligen sächsischen Ministerium für Volksbildung – zustande gebracht, dass ein bedeutsamer pädagogischer Versuch, der weit über Deutschlands
Grenzen hinaus Beachtung und Anerkennung fand, abgewürgt wurde.(…) Unter der Führung des Verbandes der christlichen Elternvereine unternahm alles, was in Leipzig an Stupidität sich zusammenfinden konnte, einen jahrelangen wüsten Feldzug gegen die Versuchsschule. Die letzten Gründe für die Gegnerschaft waren keine pädagogischen, sondern konfessionelle. Da die Lehrer der Versuchsschule keinen Religionsunterricht erteilten, sondern dies dem Geistlichen überließen, ergoss sich der ganze
Hass der Reaktionäre über das Lehrerkollegium. Man bearbeitete die Eltern, ihre Kinder der Schule zu entziehen und suchte durch gerichtlichen Beschluss die Aufhebung des Bezirkszwanges zu erreichen. Geradezu berühmt geworden ist der Prozess Mendt, bei dem das Gericht zwar zahlreiche christliche Gegner, aber keine Freunde der Arbeitsschule als Zeugen vernahm und sich einen Sachverständigen leistete, der noch nie einen Fuß in die Schule gesetzt hatte."
Viele idealistisch gestimmte Lehrkräfte des Leipziger Lehrervereins waren enttäuscht und hatten Probleme, die Gerichtsentscheidung zu akzeptieren:
„Es wird für die pädagogische Welt unverständlich bleiben, daß sich aus der doch so unwesentlichen Begebenheit eines ungerechtfertigten Schulversäumnis (ein Vater hielt seinen Sohn längere Zeit widerrechtlich vom Schulbesuche fern) nicht weniger als vier gerichtliche Prozesse (einer vor dem Schöffengericht, zwei vor dem Landgericht und einer vor dem Oberlandesgericht) entwickeln konnten, von denen die beiden Landgerichtsprozesse die Ungesetzlichkeit der Schule aussprachen … Geradezu tragisch
aber ist es, daß die Rechtsfindung, die noch keineswegs abgeschlossen sein konnte, durch die rein äußerliche Tatsache einer gerichtlichen Verjährung zum Abbruch gekommen ist. Die Fachkreise werden nie verstehen können, daß ein Gericht überhaupt der großen pädagogischen Richtung, der Arbeitsschulbewegung, die Existenzberechtigung in einer staatlichen Schule absprechen konnte.“
Allerdings hatte das Gericht der Arbeitsschulbewegung nicht die Existenzberechtigung abgesprochen. Die Lehrkräfte selbst haben beschlossen, den Status als Versuchsschule zu beenden, weil sie nicht die Aufhebung des Bezirkszwanges nicht akzeptieren wollten.