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Freies Denken und Demokratielernen

Im Jahre 1900 erhielt der Reformpädagoge Hugo Gaudig einen Ruf als Direktor an einer Höheren Mädchenschule in Halle und seine Veröffentlichungen auch über Deutschland hinaus bekannt gemacht. Schon 1904 erschien seine Schulphilosophie in den „Didaktischen Ketzereien“ und 1917 folgte „Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit“.

1920 fragte er mit dem Titel „Schulreform? Vorläufiges zur Reform des Reformierens“ nach der pädagogischen Zukunft, weil er befürchten musste, dass seine Idee der „Arbeitsschule“ und der „Kulturschule“ von den neuen Bildungsverantwortlichen falsch verstanden wurde. Trotz seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem „alten Schulwesen“ genoss Gaudig bis zu seinem Tode 1923 ein sehr hohes Ansehen bei Schulbehörden und in der Öffentlichkeit. Diese billigten nicht nur die Ideen seiner „ketzerischen“ Reformpädagogik, sondern bauten ihm 1907 noch eine zweite, prächtig ausgestattete Höhere Mädchenschule mit Lehrerinnenausbildung in Leipzig.

Nach dem I. Weltkrieg gewann die Schule mit ihrem aktiven Kollegium bei Fortbildungen, Kongressen und in Fachzeitschriften noch einen letzten großen Aufschwung. Vor allem die Möglichkeit für Besucher, sich weiterhin durch Hospitationen in der Schulpraxis von der Methode der freien geistigen Arbeit zu überzeugen, führte zu internationaler Bekanntheit in den 1920er Jahren. Allerdings konnte das Kollegium der Gaudigschule nach Gaudigs Tod 1923 nur noch begrenzt in seinem Sinne weiterarbeiten, weil die Vorklassen als Übungsklassen geschlossen wurden und das Lehrerinnenseminar wegen der Akademisierung der Lehrerbildung keine Lehramtskandidatinnen mehr aufnehmen durfte. Aus dem „Schulzentrum“ wurde eine Deutsche Oberschule für Mädchen.

Kartenansicht
Schletterplatz I. Höhere Mädchenschule
Döllnitzer Straße 2, II. Höhere Mädchenschule (heute Lumumbastraße)
Sidonienstraße 21, Wohnhaus Hugo Gaudig (heute Paul-Gruner-Straße)

In diesem Teil der Ausstellung zeigen wir,

welche reformpädagogischen
Ideen Hugo Gaudig und
sein Kollegium bereits
vor der Revolution
entwickelten

Zum Thema

wie sich Hugo Gaudig und sein
Kollegium zu anderen
reformpädagogischen
Konzepten der Zeit
positionierten und die
freie geistige Tätigkeit
im alltäglichen Unterricht
umsetzten

Zum Thema

welche Strahlkraft
die Schulen in den
Jahren 1900 bis 1923
entwickelten
und wie diese
erlosch

Zum Thema

Didaktische Ketzereien“ im Königreich Sachsen

“Wer aber nur ein wenig Zeitverständnis hat, weiß, daß wir nicht am Ende der Reform der deutschen Schule stehen, sondern in den ersten Anfängen.“

Architekt einer Schule
der Freiheit

Die „Paukschule“ mit ihrem geisttötenden Drill sollte nach Hugo Gaudig durch freies Denken und verantwortungsbewussten Umgang mit Freiheit überwunden werden. Er kritisiert die Erziehung zu kollektivistischem Denken und hat dabei den angepassten Untertan vor Augen.

Bei Hugo Gaudig konnten die Schülerinnen selbstbestimmt lernen. Sie durften entscheiden, zu welchen Themen sie mit wem und wie lange arbeiten wollten. Die Lerninhalte hatten etwas mit ihrem Leben zu tun. Die tragenden Kräfte, die das Interesse an Bildung weckten, waren Wertgefühle, die auf sicherer Werterfahrung beruhten. Die Schularbeit musste von den Lernenden als wertvoll empfunden werden.

Biografie Hugo Gaudig

"Alle Schulgattungen müssen sich die Aufgabe stellen, den Denkzwang, den sie zunächst ausüben und ausüben müssen, allmählich immer mehr zu mildern und bei denen, an denen sie arbeiten, immer mehr ein Denkenwollen und freies Denkenkönnen zu erzielen. In unseren Schulen wird vom Lehrer zuviel gelehrt – vom Schüler ‚zuviel gewußt‘."

„Für mich ist die viel beobachtete Stumpfheit des Gefühlslebens der Schüler im Unterricht Beweis dafür, dass die Schule die Fühlung mit dem Leben und das Leben die Fühlung mit der Schule zum guten Teil eingebüßt hat.“

„Da, wo freie geistige Tätigkeit in unserem Sinne herrscht, gibt es z.B. keine Masse mehr. Die Masse hat sich aufgelöst in selbstverantwortliche Persönlichkeiten.“

Das Höhere Mädchenschulwesen
als Ausgangspunkt der Reform

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem „alten Schulwesen“ wurde Hugo Gaudig 1900 als Direktor der Höheren Mädchenschule in Leipzig berufen. Er genoss ein hohes Ansehen bei seinem Kollegium, den Eltern, den Schulbehörden und auch beim sächsischen König.

Ein großstädtischer Schulpalast

Die Stadt Leipzig baute für Hugo Gaudig 1907 noch eine zweite, prächtig ausgestattete Höhere Mädchenschule. Für diese übernahm Gaudig ebenfalls die Leitung. Sie umfasste 26 Klassen unter einem Dach, davon 15 in der  Höheren Schule für Mädchen, das Lehrerinnenseminar mit 7 Klassen und die neu eingerichtete Seminarübungsschule mit 4 Klassen.

 

Interessierte aus der ganzen Welt kamen in diese Schule, um im Unterricht zu hospitieren.

„Ein erfreulicher Individualismus charakterisiert die Klassenräume und die geschlechtsgetrennten Arbeitsräume der Lehrkräfte.“

„Hier, in unserem Schulhaus, ist die Treppe künstlerisch geadelt, sie ist ein selbständiger Innenraum, der das Steigen zum Vergnügen macht.(…) Das ganze Treppenhaus ist von schönem Licht belebt.(…) Es strahlt sanft von den zart gefärbten Wänden zurück. Das Herzstück ist die Aula, ein stillwirkender Raum, der ins Innere zieht.“ (…)

„Gerade Decke schließt sonst die Schulsäle ab.; wie festlich wirkt hier die Segmentdecke mit ihrer deutlichen und doch nicht anspruchsvollen Wölbung.“

Freie geistige Arbeit

Durch die freie Selbsttätigkeit sollten sich die Schülerinnen geistig arbeitend zu Persönlichkeiten, zu „Arbeitgebern“ entwickeln. Die Schülerinnen lernten zu sprechen, die Lehrkräfte lernten zu schweigen.

Lehrerfragen waren verpönt, Schülerfragen wurden durch vorbereitetes Material angeregt und nicht von der Lehrkraft beantwortet, sondern an die Gruppe zurückgegeben. So entwickelten sich kontroverse Debatten im Klassenzimmer.

Freie geistige Tätigkeit ist ein Prinzip, „das die gesamte Schularbeit von der ersten Stunde des ersten Schuljahres bis zur letzten Stunde des dreizehnten Schuljahres beherrschen muß. Es muß entscheidend einwirken bei dem Entwurf des Bildungsideals, bei der Auswahl der Stoffe, bei dem Aufbau der Bildungsgänge und des Lehrplans, bei der Gestaltung des unterrichtlichen Verfahrens.“

„Unsere Schüler sollen den neuen Zustand als einen Zustand fühlen, der sie mit Verantwortung belastet, zugleich aber auch ihnen Rechte, was sage ich: Rechte? – Wirkungsmöglichkeiten gewährt. Freilich, aus seiner schulmeisterlichen Autokratenseele muß man heraus, wenn man mit dem Gedanken des Mitbestimmens Ernst machen will.“

Die Örtlichkeit des Unterrichts - Ortsbestimmung einer Lehrstunde über das Gänseblümchen von Otto Scheibner

Veränderter Lehrertypus

Die freie geistige Arbeit kommt nach Gaudig einer „kopernikanischen Wende“ gleich, denn sie verlangt einen veränderten Lehrertypus.

Die Lehrerinnen und Lehrer lernten es, vor allem die Schülerinnen sprechen zu lassen. Sie entwickelten eigene Lehrbücher und halfen sich gegenseitig durch Hospitationen. Eltern wurden als Partner der Erziehungsarbeit angesehen und durften hospitieren.

Zugleich zeigte sich die freie geistige Arbeit auch in einer überaus reichhaltigen Publikationstätigkeit der Lehrerinnen und Lehrer an der Gaudigschule.

Publikationen der Lehrkräfte
Biografie Rosalie Büttner
Biografie Emma Martens

"Damit lehnen wir ab alle Teilnaturen von Lehrern: den Nurlehrer, den Unterrichtsbeamten, das personifizierte Lehrfach, den pädagogischen Stimmungskünstler, den pädagogischen Gelegenheitsarbeiter – aber auch den Lehrerintellektualisten und den Unterrichtstechniker. In der neuen Schule kann nur der Lehrer erfolgreich wirken, der sich durch tiefe und vielseitige Ausbildung seiner Individualität das Recht und die Würde einer Persönlichkeit erworben hat. Ihm wird sein Beruf nicht eine Last oder unangenehme Beigabe sein … Sein Beruf wird ihn zu reichem Leben führen, um reiches Leben zu wecken.“

„Es können so für den Lehrer schwierige Lagen entstehen. Aber besser den Schülern eingestehen: das weiß ich nicht. Darüber habe ich nur Vermutungen. Darüber streiten sich zur Zeit die und die Meinungen … als den lebendigen Fragetrieb abzutöten.“

Verzeichnis der Lehrer und Lehrerinnen
an der II. Höheren Mädchenschule und dem Lehrerinnenseminar (1922)

Bernhard, Ida – Studienrat
Beyfuß, Margarete – Studienassessor
Curtius, Anna – Studienrat
Dobschall, Gertrud – Studienrat Dr.
Eberwein, Hugo – Oberlehrer
Ehrmann, Paul – Oberlehrer
Fickelscherer, Edmund – Studienrat Prof.
Friedrich, Theodor – Studienrat Prof. Dr.
Fritzsch, Magnus – Ober-Studienrat Prof. Dr.
Gaudig, Hugo – Oberstudiendirektor Prof. Dr.

 

Gedan, Paul – Studienrat Prof. Dr.
Hallmann, Hedwig – Lehrerin
Heinrich, Margarete – Studienrat
Hoffmann, Gertrude – Studienrat
Keutel, Marie – Oberlehrerin
Köhler, Eduard – Studienrat
Krögelin, Paul – Studienrat Prof. Dr.
Kratzi, Elsa – Oberlehrerin
Kunz, Elisabeth – Oberlehrerin

Lingner, Käthe – Lehrerin
Losse, Paul – Gesanglehrer
Löwenstein, K.the –Oberlehrerin
Martens, Emma – Oberstudienrat
Müller, Lotte – Lehrerin
Nestler, Waldus – Studienrat
Oeser, Georg – Oberstudienrat Prof.
Platen, Paul – Oberlehrer Dr.
Reinhard, Gustav – Studienrat Prof. Dr.
Scheibner, Otto – Oberlehrer

Schlag, Johanna – Lehrerin
Schmidt, Walter – Studienrat Prof.
Schmieder, Arno – Oberstudienrat Prof. Dr.
Tränkmann, Richard – Studienrat Prof. Dr.
Voigt, Woldemar – Studienrat Dr.
Wieland, Elisabeth – Lehrerin

„Die Zukunft will Erzieher klaren Gepräges, nicht Wissenschaftler mit angehängter Pädagogik.“

Freie geistige Tätigkeit ist Eigentätigkeit,
ist Selbsttätigkeit.

„Je mehr dem Schüler das Recht zur Selbsttätigkeit zuerkannt wird, (…) umso mehr kann sich natürlich auch seine Eigenart offenbaren.“

Didaktische Prinzipien der Freitätigkeit

In Deutschland ist der Begriff „Freitätigkeit“ von Hugo Gaudig eingeführt worden, um den älteren, seiner Meinung nach zuweilen missgedeuteten Begriff der „Selbsttätigkeit“ zu präzisieren.

Biografie Otto Scheibner

„Nur verstehe man recht: Die Forderung nach Befreiung des Unterrichts aus der `Tyrannei des Stoffes und des Lehrers` schließt nicht jegliche Bindung und Führung aus. Es haben allerdings vereinzelt falsche Propheten – früher schon wie heute noch – eine Irrlehre der Freitätigkeit verkündet, einem verhängnisvollen Aberglauben, der da meint, es vermöge das Kind einzig aus eigener Kraft sich der Kulturgüter zu bemächtigen und sich selbst an ihnen zur lebenstüchtigen Persönlichkeit zu entfalten,

so daß es nicht nur überflüssig, sondern gar schädlich wäre, wenn der Lehrer in die natürliche Selbstentwicklung irgendwie eingreife. In solchem Wahn wird dann die Schule auf Willkür, Stimmung und Laune des Kindes gestellt und um ihren Ursinn und ihre geschichtlich gewordene Gestalt betrogen:“

Arbeitsteiliger Unterricht

In der Gaudigschule wurde neben homogenem Klassenunterricht, d.h. dem parallelen Arbeiten an der gleichen Arbeitsaufgabe „in gleicher Front“ auch der heterogene Klassenunterricht praktiziert, „bei dem jeder Schüler seine eigenen Wege geht“. Wird der heterogene Klassenunterricht zusammen mit dem homogenen Klassenunterricht verbunden, dann entsteht arbeitsteiliger Klassenunterricht.

„Es besteht das Wesen des klassenteiligen Unterrichts darin, daß eine Arbeit – die Erfassung eines geografischen Landschaftsbildes, die Behandlung eines philosophischen Themas, die Betrachtung einer Tiergruppe – zu gesonderter Erledigung zergliedert und unter die Schüler einer Klasse verteilt wird, daß hernach aber die Einzelergebnisse der verschiedenen Teilleistungen in der gemeinschaftlichen Tätigkeit der Klasse – mit möglichster Zurückhaltung des Lehrers – die Vereinigung zu einem Arbeitsganzen erfahren.“

Lernen aus Überzeugung
statt aus Angst vor Strafe

„Strafarbeiten gibt es nicht, denn Arbeit soll Freude sein. Das Kind darf auswählen zwischen mehreren Möglichkeiten und geht auf Entdeckungen aus … Die Schulordnung wird vom Arbeitsschulkind selbst geschaffen aus Überzeugung und Gemeinschaftsgefühl, nicht aus Angst vor der Strafe.“

Biografie Lotte Müller

Sich keine Meinung
machen lassen

„Breite Schichten unseres Volkes lassen sich ihre Meinung machen, statt sie sich zu bilden, aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit muss das deutsche Volk heraus.“

Erziehung zur Demokratie

Arbeitsschulbewegung

Innerhalb der Arbeitsschulbewegung steht Hugo Gaudig der bürgerlichen und nicht den sozialistischen Richtungen nahe, wobei er zusammen mit Otto Scheibner und Lotte Müller vor allem die geistig-methodische Arbeit ins Zentrum rückt. Gaudigs Konzept der geistigen Selbsttätigkeit setzte sich in Deutschland gegen andere, wie das der Handarbeitschule, der Industrieschule oder der Schule der Tat, durch.

Schüleraufsatz
Olga Hollenberg

Und wenn der frühe Morgen graut

Und wenn der frühe Morgen graut, klein Bübchen durch das Fenster schaut, da sieht es, was in stiller Nacht der liebe Winter hat gemacht, geht fröhlich aus dem warmen Haus hin auf die weiße Straß’ hinaus, will hurtig von dem Zucker lecken – wie wird ihm das so herrlich schmecken! Er steckt den Mund recht tüchtig voll. O weh! Das ist doch gar zu toll, der Zucker schmeckt so eisig kalt und wird zu Wasser allsobald! Der Winter, dieser böse Mann, hat aber seine Freude dran, steht hinterm Busch bei all den Sachen und will sich fast zu Tode lachen.

„Freie geistige Tätigkeit ist Eigentätigkeit, ist Selbsttätigkeit. Es handelt sich beim freien geistigen Tun um ein Handeln aus eigenem Antrieb, mit eigenen Kräften, auf selbst gewählten Bahnen, zu frei gewählten Zeiten“

"Die Arbeitsschule fügt in einem wohlgefügten Arbeitsorganismus… nicht Stoffabschnitte, sondern Arbeitsglieder (zueinander): z.B. Fragenaufwurf, Thematisierung des Stoffes, freie Aussprache der Lernenden, geleitetes Unterrichtsgespräch, Entwerfen des Arbeitsplanes, freie Aufgabenbildung, Arbeit am Texte, Bildbetrachtung, Kartenlesen, Stillbeschäftigung am Gegenstande, zeichnerische Darstellungen, Sicherung des Unterrichtsertrages, arbeitstechnische Rückschau, Einübung, Schülerversuch, Befragung der Lehrkraft durch die Klasse usf. Setzung eines Arbeitsziels; Aufsuchen der Arbeitsmittel; Entwurf und Gliederung eines Arbeitsplans; Ausführung der Arbeitsschritte; Gewinnung und Auswertung des Arbeitsergebnisses."

Aufsätze und Diktat von Helene Knorr

Leipzig, den 13. Dezember 1910

11. Aufsatz

Vom armen Kindlein

Es war einmal ein kleines Kind, dem waren Vater und Mutter gestorben. Weil das Kind so allein in der Welt war, ging es zu anderen Leuten. Die Leute aber waren hart mit dem kleinen Kinde. Da sehnte es sich nach seinen Eltern, aber es fand die Eltern nicht. Als es eines Tages Schläge bekommen hatte, ging es heimlich fort in den Wald. Es wollte die Blumen fragen, ob sie die Eltern nicht gesehen hätten, aber die Blumen schliefen schon.

Da lauschte das Kind, ob ein Vöglein noch wach wäre, aber die Vögel träumten in den Zweigen der Bäume. Nun machte sich das Kind ein weiches Lager zurecht aus Moos. Es legte sich hin und schlief ein. Da kamen zwei Englein vom Himmel, die herzten und küssten das Kindlein, nahmen es mit sich und flogen gen Himmel. Da kamen sie an dem Monde und den tausend schimmernden Sternen vorbei. Die Engel waren des Kindleins Eltern. Es blieb nun immer bei ihnen.

A(usdruck): 1              R(echtschreibung): 1           Schr(ift): 1

Schulaufsatz Gaudigschule, Leipzig,
den 9. Februar 1911

24. Diktat (Häusliches Kopfdiktat)

Der Fuchs

Im Walde ist Reineke der Fuchs ein gar armer Gesell, den jedermann über alle Maßen schmäht. Da schilt ihn der Jäger, weil er ihm einen Hasen gefressen hat, der Vogelsteller, weil er ihm die Vögel aus dem Sprenkel ausgelöst, weil er ihm ein vorwitziges Gänschen entführt hat, das zu weit in den Wald spaziert war

 

Selbst das Kind, welches in seinem Leben vielleicht den rothaarigen Gesellen noch nie gesehen hat, singt schon: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her!“ Und manch armes Füchslein wird zu Grabe gehen und seinen Pelz lassen müssen ohne zu wissen, wie Gänsebraten schmeckt.

A.: 1                                 R.: 1                                 Schr.: 1

Leipzig, den 23. August 1910

7. Aufsatz (Freie Arbeit nach dem Gedicht Das Dorf)

Am Wege des Dorfes steht ein Kirchlein. Auf den Höfen schreien die Hühner und oben auf dem Dache flattern die Tauben. Am Bach schnattern die Enten. Über den Bach führt eine Brücke. Auf der Brücke steht ein Junge, der singt, dass es durch das ganze Dorf schallt. Nun kommt ein Wagen gefahren. Er ist mit Heu beladen. Oben darauf sitz der Hans und die Liese. Die beiden lachen und freuen sich. Des Königs Thron ist viel prächtiger, doch Hans und Liese würden, wenn sie König wären, einen Wagen voll Heu als Thron nehmen.

A.: 2a                           R.: 1                            Schr.: 2-2b

Eigene Unterrichtskonzeptionen,
eigene Lehrbücher

Das Kollegium an der Gaudigschule entwickelte und veröffentlichte für nahezu alle Unterrichtsfächer Konzeptionen für die freie geistige Arbeit, die die grundsätzlichen Herangehensweisen beschreiben. Dazu wurden auch eigene, passende Lehrwerke konzipiert.

„Ein fertiger Plan, der der arbeitenden Klassengemeinschaft vom Lehrer aufgedrängt wird, stünde natürlich im schärfsten Widerspruch zu unserem Grundprinzip. Ebensowenig besitzt die Klasse ein Schema, nach dem sie ihre Arbeit aufbaut. Vielmehr müssen die Schüler für die Arbeit in der Klasse selbst den Plan entwerfen,

vor allem nach der jeweiligen Natur des wissenschaftlichen Stoffs, aber auch nach den subjektiven Arbeitsbedingungen …Damit die rechten Ansatzpunkte für die Arbeit gefunden werden, muß die Klasse oft im Anfang des gesamten Arbeitsvorgangs die Fragen und Probleme aufwerfen.“

Unterrichtsbeispiel im Fach Deutsch von Lotte Müller, enthalten in der Zeitschrift "Die Scholle, 1929, Privatbesitz

Sich durch Fragen bilden

„Dieses dumme Sätzebilden lässt Gefühle nicht wach werden, lässt euer Vorstellungs- und Denkleben erstarren! Die gefährliche Neigung, mit Wissen zu prunken, verdrängt den Wunsch, sich durch Fragen zu bilden. Führe das Kind wieder zu sich selbst zurück!“

Gesamtunterricht als
„gefährliche Kulturwidrigkeit“

Die vom Leipziger Lehrerverein favorisierte Zusammenführung der Fächer zugunsten eines fächerverbindenden Gesamtunterrichts lehnte Gaudig, auch für die Grundschule, als eine „gefährliche Kulturwidrigkeit“ ab. Dennoch unterstützte Hugo Gaudig fächerverbindendes Lernen, beispielsweise wurden im Zeichenunterricht Kulissen und Vorträge miteinander verbunden.

„Indes – wir haben doch die große Umwälzung, was soll das? Soll das besagen, dass uns die Revolution den Plan und die Kräfte einer Schulerneuerung gebracht hat, dann besagt er nichts; denn wo ist der Plan, wo sind die Kräfte? Meint man, zur Erneuerung der Schule genügen die paar Verheißungen, an denen wir uns bisher zu erfreuen haben? Doch wohl nicht. Leben wir nicht in einer Zeit des Durcheinanders der Meinungen und Strebungen, so dass man in sich zusammenstimmende pädagogische Schlussfolgerungen nicht ziehen kann?

Ablehnung der weltlichen Einheitsschule

Sozialdemokratische Forderungen des Leipziger Lehrervereins, wie die nach der weltlichen Einheitsschule oder der gemeinsamen Grundschule, unterstützte Hugo Gaudig nicht, er bleibt auch nach der Revolution seinen nationalpolitischen und bürgerlichen Ansichten weitgehend treu.

"Man unterschätze nicht die übergroße Anforderung, die man mit dem Verlangen, das arme Proletarierkind solle neidlos das bessere Los seines Mitschülers täglich vor Augen sehen, an das arme Kind stellt."

"Überall, wo es deutsche Schulen gibt, sind sie als Arbeitsschulen innerlich wesensverwandt. Dieser Einheitszug muss durch das gesamte Schulwesen gehen. Und noch ein anderes: Zu dem formalen tritt der materielle Einheitszug…. Mag die deutsche Schule sich in so viele und so verschiedene Schularten als möglich differenzieren, die deutsche Kultur ist für alle unweigerlich der große einheitliche Hauptgegenstand der Erkenntnis."

„Es will mir unmöglich erscheinen, dass man die Kinder der Männer, die miteinander in einer Gemeinschaft auf Tod und Leben standen, von Schulbeginn an trennt.“

Aber auch:„dass es nicht rätlich ist, zwischen den verschiedenen Schulen, die das Schulwesen eines Einheitsgebietes umfasst, allzu sehr auf eine ‚lebensvolle Verbindung aller Glieder’ zu dringen. Dies Streben, möglichst viele Übergangsmöglichkeiten zu schaffen, verhindert die Ausprägung charaktervoller Schulgestalten“

Beitrag zur Reichsschulkonferenz

Die Gaudigschule erlangte eine große Bekanntheit auch durch die Arbeiten und die Veröffentlichungen der Lehrerinnen und Lehrer sowie Hugo Gaudigs Beitrag auf der Reichsschulkonferenz 1920 in Berlin. Anträge auf Hospitationen folgten aus ganz Deutschland.

„Freilich darf der Arbeitsgedanke nicht veräußerlicht werden; er rührt an das Wesen des Erziehungs- und Bildungsverfahrens. Erst wenn die lebendige Eigentätigkeit des Schülers, erst wenn die Schule selbst als lebendiger Teil des Kulturlebens aufgefasst und mit eigenartigem Innenleben gefüllt wird, wird der Arbeitsgedanke vollendet. (Oberschulrat Gaudig-Leipzig)“

“Das Prinzip der freien geistigen Arbeit ist etwas ganz Großes... Ich habe über 15 Jahre gebraucht, um mich daran zu gewöhnen, den Mund zu halten.“

Pädagogische Wochen

Auf Bitten des Berliner Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht wurden 1921 an der Gaudigschule „Pädagogische Wochen“ eingerichtet. Die nahezu 500 Teilnehmenden aus ganz Deutschland hospitierten in 76 Unterrichtsstunden und besuchten 29 Vorträge und Diskussionen des Lehrerkollegiums.

Beitrag zur Leipziger Pädagogischen Woche vom 06.02.1921 in der Leipziger Volkszeitung:

„In der für unsere Stadt neuartigen Veranstaltung war aus allen Teilen Deutschlands eine über alle Erwartungen große Anzahl von Lehrern und Lehrerinnen der verschiedenen Schulen herbeigeeilt. Mit einer Teilnehmerzahl von 150 hatte man gerechnet. Aber an 500 Karten mussten ausgegeben werden.“

„Der Eindruck war zunächst völlig verblüffend, auch für Kenner schulreformatorischer Pläne und Versuche. Die Kinder ergreifen nach Darbietung eines neuen Stoffes sofort die Initiative, besprechen das Gehörte, tauschen ihre Meinungen, ohne dass die Diskussion in leeres Gerede zerflattert; sie weisen Abweichungen vom Thema selbständig zurück und bestimmen den Gang der Unterrichtsstunde.

Drei Dinge fallen dem Beobachter besonders auf: die erstaunliche Sprachgewandtheit, die Höhe der Leistung, der Arbeitseifer. Bemerkenswert: die Bescheidenheit, Liebenswürdigkeit und Frische der Schülerinnen, ihre Hilfsbereitschaft, die sie untereinander und den Gästen gegenüber bewiesen, die Phantasie und der Humor, die sich in ihren festlichen Darbietungen des letzten Abends zeigten.“

Bericht des Schweizer Seminardirektors Walter Grütter über seine pädagogische Studienreise 1922 nach Leipzig, u.a. an die Gaudigschule. In: Pionier: Organ der schweizerischen permanenten Schulausstellung in Bern 47 (1926), Heft 5-6, S.33-39. ETH Zürich, www.e-periodica.ch

Die Gaudigschule in Leipzig –
ein nach der Revolution bald erloschener Komet?

„Von der Gaudigschule geht man nicht weg!“

1923 – Verlust der
geistigen Mitte

Nach dem Tod Hugo Gaudigs im Jahr 1923 fehlt seine einende Kraft, die eine „geistige Mitte“ im Kollegium bildete. Die Lehrerinnen und Lehrer gehen zum Teil auf getrennten Wegen weiter. Dennoch führen viele von ihnen bis 1952 in ihrem Unterricht in Leipzig die Ideen fort, u.a. Lotte Müller und Waldus Nestler. Otto Scheibner wirkt ab 1923 als Dozent an der Universität Jena und entwickelt dort das pädagogische Erbe Gaudigs weiter.

Biografie Lotte Müller
Biografie Waldus Nestler
Biografie Otto Scheibner

"Du anderes Ich, wir beide können hier nicht bleiben! Du musst weichen, jetzt bin ich noch hier!“

"Wer aber nur ein wenig Zeitverständnis hat, weiß, daß wir nicht am Ende der Reform der deutschen Schule stehen, sondern in den ersten Anfängen.“

Kartenansicht
Schletterplatz I. Höhere Mädchenschule
Döllnitzer Straße 2,
II. Höhere Mädchenschule
(heute Lumumbastraße)
Sidonienstraße 21,
Wohnhaus Hugo Gaudig
(heute Paul-Gruner-Straße)