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Fiktives Interview mit Prof. Dr. Walter Goetz (1867-1958)[1]

Lieber Herr Prof. Dr. Goetz, wie gestaltete sich aus Ihrer Sicht die Nachkriegssituation in der Leipziger Parteienlandschaft?

Die Stadtregierung wurde von den radikalen Sozialisten übernommen, nachdem die gemäßigten Sozialisten vollkommen zurückgedrängt worden waren. Ich habe später von Männern der Ebertschen Anschauung erzählen gehört, in welch rücksichtsloser Weise die alten Parteigenossen(…) von den radikalen Elementen um jeden Einfluss gebracht und aus der Partei ausgeschaltet wurden.

Und die anderen Parteien hatten in Leipzig keine Stimme?

 Alle anderen politischen Parteien waren ohnmächtig.

Wie kam es zur Gründung des Bürgerausschusses?

Es war für mich ein unvergesslicher Eindruck, als ich zur Organisation einer bürgerlichen Gegenbewegung an einem Sonntag-Nachmittag zu einer Sitzung in das Hotel Astoria kam, den großen Teeraum, überfüllt mit bürgerlicher Gesellschaft bei froher Musik, durchschritt und mir sagen musste, dass diese Schichten unseres Volkes wahrlich nicht verdienten, dass man zu ihren Gunsten auch nur den kleinen Finger rühre. Das Wort Handgranate lag mir auf den Lippen.

Und wo fanden Sie Ihre Mitstreiter für den Bürgerausschuss?

In einem Nebenzimmer tagten etwa zwanzig von mir eingeladene Herren der verschiedensten Berufe und beschlossen, unter dem Namen „Bürgerausschuss“ eine Gemeinschaft der Abwehr zu bilden, die sich zur Aufgabe setzte, sich sowohl dem Terror der „unabhängigen“ Sozialdemokratie als auch der frivolen Gleichgültigkeit bürgerlicher Kreise entgegen zu stellen.

Wie oft haben Sie sich getroffen?

Wir beschlossen, täglich am Vormittag Versammlungen zu veranstalten… Um Störungen der Versammlungen hintan zu halten, wurde jedes Mal in einem anderen Lokal getagt…

Wer kam auf die Idee mit dem Bürgerstreik?

Ein Arzt machte uns darauf aufmerksam, dass ein Arbeitsausstand der Leipziger Ärzte für die Sozialdemokraten eine nicht zu überwindende Lage schaffen werde…

Und hat das funktioniert?

Innerhalb weniger Tage waren die Unabhängigen gezwungen zu kapitulieren.

Was wurde aus dem Haftbefehl, der gegen Sie erlassen wurde?

Der wurde bald wieder aufgehoben und eigentlich wollte ich nun in einer Sitzung Frieden mit dem Arbeiter- und Soldatenrat schließen. Leider waren die Herren im  ASR dazu nicht bereit und die Kämpfe hätten vielleicht auch wieder begonnen, wenn nicht das in Weimar stehende Freikorps des General von Maercker…am nächsten Morgen um 6 Uhr in dem Kasernenviertel in Leipzig-Gohlis einmarschiert wäre.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Dr. Goetz!

 


[1] Walter Goetz, Aus dem Leben eines deutschen Historikers, Gesammelte Aufsätze, Köln 1957, S. 55 ff