Referentenentwurf im Auftrage des Ministeriums für Volksbildung verfaßt von Oberregierungsrat Dr. Alwin Wünsche (vom 27. November 1923) (1) Das sächsische Schulwesen trägt dem Gedanken der Einheitsschule gegenwärtig zu wenig Rechung. (2) Die Aufgabe des gesamten Unterrichts besteht nach der formalen Seite in der planmäßigen Entfaltung aller guten Anlagen, die im Kinde vorhanden sind. (3) Nach der inhaltlichen Seite sieht die Einheitsschule ihre Hauptaufgabe in der gründlichen Einführung in die Bildungsgüter der Gegenwartskultur, um die Schüler zur selbständigen Mitarbeit an den Aufgaben der Gegenwart vorzubereiten. Der Beschäftigung mit der Sprache und Kultur der Antike kann kein so breiter Raum mehr wie bisher gewährt werden. Doch kann besonderen Bedürfnissen in dieser Richtung durch besondere Veranstaltungen Rechnung getragen werden. (4) Als sittliches Ziel aller Schularbeit hat die soziale Einigung des Volkes und die
Grundzüge der Einheitsschule
Erziehung zu selbstlosem Dienste für die Gemeinschaft zu gelten. (5) Der Unterricht hat sich in jedem Schuljahre der geistigen Entwicklungsstufe des Schüleralters sorgfältig anzupassen. (6) Der Unterricht ist im Sinne der Arbeitsschule zu erteilen, wobei jeder Schüler seiner jeweiligen geistigen Kraft entsprechend zur Mitarbeit herangezogen werden kann. (7) Das sogenannte Stoffprinzip hat, wo es noch herrscht, dem Prinzipe der Kraftbildung zu weichen, dem Erarbeiten der Kenntnisse, soweit dies nur immer möglich ist. (8) Jede Verfrühung und insbesondere jede falsche und vorzeitige Wissenschaftlichkeit des Unterrichts ist zu vermeiden. Begriffe sind auf das sorgfältigste auf dem Wege der Anschauung, der Induktion zu gewinnen. (9) Eine Trennung der Schulkinder nach verschiedenen Schulgattungen schon am Ende der Grundschule ist hiernach nicht zu rechtfertigen; sie ist aus pädagogischen und sozialen Gründen so weit hinauszuschieben, bis sich die verschiedenen Begabungsrichtungen
deutlich bemerkbar machen. (10) Deshalb ist auf der Grundschule eine weitere gemeinschaftliche Schulstufe zu errichten, die sich über vier Jahre bis zum Ende der Volksschulpflicht erstreckt und als Mittelschule bezeichnet wird. (11) Die Mittelschule hat von Anfang an Gelegenheit zur gründlichen Erlernung einer modernen Fremdsprache (Englisch) zu bieten. (12) Der fremdsprachliche Unterricht wird als wahlfreies Fach an geeignete Schüler erteilt. (13) Für Schüler, die nicht am fremdsprachlichen Unterricht teilnehmen, aber für eine andere Seite der Schularbeit besondere Neigung zeigen (Zeichnen, Naturlehre), sind nach Bedarf wahlfreie Kurse einzurichten, deren Teilnehmer nicht Schüler ein- und desselben Schuljahres zu sein brauchen. (14) Im übrigen gilt für den Unterricht aller Schüler der Mittelschule der gleiche Lehrplan,
der neu aufzustellen ist. (15) Schwachbefähigte Schüler der Mittelschule sind, soweit angängig, in Hilfsklassen zu unterrichten. (16) Der Unterricht der Mittelschule kann sowohl im Gebäude der derzeitigen höheren Schule als auch in einer Volksschule erteilt werden; er gilt in beiden Fällen als gleichwertig. (17) Für die Mittelschule ist der Bezirkszwang einzuführen. (18) Geeignete Schüler kleiner Volksschulen, in denen sich fremdsprachlicher und sonstiger wahlfreier Unterricht nicht erteilen läßt, können den wahlfreien oder den gesamten Unterricht einer benachbarten größeren Schule besuchen. (19) Die Mittelschule hat zugleich als Unterstufe aller höheren Schulen zu gelten. (20) Der Übergang aus der Mittelschule in die Oberstufe der höheren Schule, die als Oberschule bezeichnet wird, erfolgt ohne Aufnahmeprüfung auf Grund des
Entlassungszeugnisses der Mittelschule, auf welchem ein Vermerk über die Eignung zum Besuche der Oberschule anzubringen ist. Den Vorrang bei der Aufnahme erhalten die Schüler mit den besseren Zeugnissen. (21) Die Oberschule ist eine allgemeine Wahlschule, für welche kein Bezirkszwang besteht. (22) Die Oberschule kann zwei- oder vierjährig sein. Die Dauer des Oberschullehrganges ist an sich keine Frage der Einheitsschule. Doch sprechen für eine Dauer von höchstens vier Jahren wichtige pädagogische und wirtschaftliche Gründe. (23) Die Oberschule kann sein: eine zweijährige Realschule, eine zweijährige Deutsche Oberschule (sogenanntes neuntes und zehntes Volksschuljahr mit Vollunterricht), eine vierjährige Oberrealschule, eine vierjährige Deutsche Oberschule oder eine vierjährige Gymnasiale Oberschule. (24) Mit Beginn der Oberschule kann eine zweite moderne Fremdsprache oder Latein als
verbindliches Fach einsetzen. (25) Mehr als zwei Fremdsprachen dürfen nicht zu gleicher Zeit als verbindliche Fächer betrieben werden. (26) Griechisch kann als Wahlfach erteilt werden, desgleichen Hebräisch. (27) Zeichnen und Musik sind als verbindliche Fächer bis in die oberste Klasse der Oberschule fortzuführen; unmusikalische Schüler sind vom Musikunterrichte zu dispensieren. Leibesübungen sind in stärkerem Maße als bisher zu treiben. (28) Für alle Arten der Oberschule sind neue Lehrpläne aufzustellen, in denen auch die Unterrichtsgebiete, die zur Zeit dem 9. Schuljahre der höheren Schule zugewiesen sind, soweit als möglich Berücksichtigung zu finden haben. (29) Die Verteilung der Unterrichtsstoffe auf die einzelnen Schuljahre hat so zu erfolgen, daß dem Lehrer hinreichende Bewegungsfreiheit bleibt und er insbesondere an der Durchführung des Arbeitsunterrichts nicht gehemmt wird.
(30) Das übertriebene Fachlehrersystem ist dadurch einzuschränken, daß möglichst viele Unterrichtsfächer in einer Klasse ein- und demselben Lehrer übertragen werden; dem Prinzipe des Gesamtunterrichts ist, soweit irgend angängig, Rechnung zu tragen. (31) Die Zahl der wöchentlichen Pflichtstunden für Schüler darf auf keiner Schulstufe 30 überschreiten. (32) Die Klassenstärke wird für die Mittelschule auf 35, für die Oberschule auf 30 festgesetzt. (33) Schülerprüfungen finden weder am Schlusse der halben und ganzen Schuljahre, noch am Ende eines ganzen Lehrganges statt. Die Halbjahrs- und Jahreszeugnisse und das Reifezeugnis werden den Schülern auf Grund ihrer Schulleistungen erteilt. (34) Einer Aufnahmeprüfung hat sich zu unterziehen, wer in eine Oberschule eintreten will, ohne ein dazu berechtigtes Entlassungszeugnis einer anderen Schule vorweisen zu können.
(35) Einer Reifeprüfung hat sich zu unterziehen, wer das Reifezeugnis einer Oberschule erlangen will, ohne am Unterrichte der obersten Klasse der betreffenden Schule teilgenommen zu haben. (36) Die dreijährige Berufsschule schließt sich als Pflichtschule an die Mittelschule an. (Sie kann nach § 2 Abs. 7 des Übergangsschulgesetzes auch fremdsprachlichen Unterricht erteilen.) (37) Berufsschüler können nach Bestehen einer Aufnahmeprüfung in eine Oberschule übergehen und sind, soweit dies möglich, an bestimmten Orten zu besonderen Klassen der Oberschule zu vereinigen, in denen auf ihren bisherigen Bildungsgang besondere Rücksicht zu nehmen ist. Von Berufsschülern, die seit Entlassung aus der Mittelschule ununterbrochenen Vollunterricht in der Berufsschule erhalten haben, wird diese Aufnahmeprüfung nicht verlangt.